[PDF] Sehn-Sucht. 26 Studien zum Thema Nostalgie. von Udo Leuschner - Free Download PDF (2024)

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Sehn-Sucht 26 Studien zum Thema Nostalgie

von Udo Leuschner

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Diese Essays wurden 1991 geschrieben. Sie gehören zur Serie „Sehn-Sucht“, die insgesamt 26 Essays zur Dialektik von Nostalgie und Utopie umfaßt. HTML-Fassung fürs Internet 2000; PDF-Datei 2003

Udo Leuschner, Sehn-Sucht

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Nostalgie Die erstaunliche Karriere eines Kunstworts, das zunächst nichts anderes als Heimweh bedeutete

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Heimweh Wie die Entfremdung von der Heimat zum Problem wurde - Die "nostalgia" im Wandel des wissenschaftlichen Zeitgeistes

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Die „Schweizerkrankheit“ Die magische Wirkung des Kuhreigen - Weshalb Eidgenossen als besonders anfällig für das Heimweh galten

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Arkadien Der Traum vom irdischen Paradies - Wie die Schäferidylle die christliche Religion über zwei Jahrtausende begleitete

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„Et in arcadia ego“ Die elegische Wandlung des arkadischen Motivs und das Ende der Schäferei

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Ruinen-Symbolik Die Ambivalenz von Nostalgie und Utopie im arkadischen Landschaftsbild

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Symbol und Sentiment Weshalb das arkadische Landschaftsbild mit dem Barockgarten koexistieren konnte

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„Paradise lost“ Der Sensualismus als Wegbereiter des Landschaftsgartens

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Der Garten als moralische Anstalt Wie der englische Garten im Kopf einer Elite entstand und in der Landschaft realisiert wurde

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Das dreidimensionale Arkadien Klassik und Spätstil des englischen Landschaftsgartens

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Empfindsamkeit Die Verwirklichung Arkadiens im kontinentalen Garten des 18. Jahrhunderts

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„Zwang des Ungezwungenen“ Was Goethe und Hegel an der neuen Empfindsamkeit störte

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Gothic revival Wie in England die nostalgische Verklärung des Mittelalters begann

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Die Tagträume des Thomas Chatterton Wie ein phantasierender Knabe die Bürger der Stadt Bristol zum Narren hielt

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Arm und reich im Parnaß Wie Chatterton von Walpole enttäuscht wurde und sich das Leben nahm

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Ein Barde namens Ossian Wie eine nostalgische Fälschung die gebildete Welt begeisterte

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Die „Fragments“ Wie der erfolglose Dichter Macpherson zum Fälschen verleitet und auf Expeditionsreise in die Highlands geschickt wurde

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„Fingal“ und „Temora“ Wie Macpherson den Betrug fortsetzte und mit "wissenschaftlichem" Begleitapparat versah

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Frechheit siegt Wie Macpherson allerhöchste Protektion genoß und am Ende sogar die „Originale“ herbeizauberte

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Für Voltaire eine Frage des Geschmacks Der „Ossian“ im Urteil kritischer Zeitgenossen und seine Rezeption außerhalb Englands

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Burgen-Romantik Wie das „gothic revival“ auf Deutschland übergriff und zum Wiederaufbau der Rheinburgen führte

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„Altdeutsch“ statt neugotisch Weshalb Kaiser Wilhelm II. den Hohenzollern nicht mochte und sich die Hohkönigsburg im Elsaß erbauen ließ

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Elegie der Kindheit Wie ein Kunsthistoriker seine persönliche Nostalgieals "Verlust der Mitte" auf die Kunst der Neuzeit proji*zierte

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Die Rosenkreuzer Wie ein nostalgisches Hirngespinst sich verselbständigte und von Tübingen nach Kalifornien gelangte

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Das dritte Reich Ein tausendjähriger Mythos zwischen Utopie und Nostalgie

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Das Prinzip Hoffnung Über den Zusammenhang von Nostalgie und Utopie

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Versuch eines Fazits Der Glaube, auf das Prinzip Hoffnung verzichten zu können, ist vielleicht nur die bornierteste aller Hoffnungen

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Anmerkungen

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Nostalgie

Nostalgie Die erstaunliche Karriere eines Kunstworts, das zunächst nichts anderes als Heimweh bedeutete Die heutige Nostalgie-Welle ist nicht die erste. Schon Anfang der siebziger Jahre wurden die Bundesrepublik und andere Länder von einer scheinbar neuartigen geistigen Stimmung ergriffen: Allenthalben keimte die Sehnsucht nach altem Krimskrams. Vorausgegangen war die Neuentdeckung des Jugendstils, den kunstsinnige Sammler längst aus seiner jahrzehntelangen Verfemung erlöst und rehabilitiert hatten. Die neue Sucht nach Vergangenem sprengte jedoch alle Grenzen und schlug alle Rekorde. Sie warf sich auf den Jugendstil nicht minder wie auf Opas Grammophon, Papas Volksempfänger, Omas Spitzendeckchen, vergilbte Fotografien, Biedermeier, Gründerzeitliches, Art déco, Möbel, Bücher, Bilder, Vasen, Gläser, Lampen und sonstigen Trödel. Antiquitätengeschäfte, die bis dahin eher spärlich anzutreffen waren, sprossen nur so aus dem Boden. Es war, als sei die Sturm-und-Drang-Periode der Studentenbewegung jäher Resignation und Rückwärtsgewandtheit gewichen. (1) Das Phänomen schien so neu, daß es zunächst sogar an einem Wort dafür fehlte. Das heißt, das passende Wort war so gut wie unbekannt. Bis dahin fristete die "Nostalgie" nämlich ein unbeachtetes Dasein. In manchem Lexikon wurde sie nicht einmal erwähnt. Selbst der Große Brockhaus des Jahres 1971 beschränkte sich auf die knappe Auskunft: „Heimweh, Sehnsucht nach Rückkehr; auch: Sehnsucht nach Vergangenem.“ „Ehrlich gesagt war mir das Wort bis vor kurzem nur aus dem Titel eines Tangos bekannt“, gestand 1973 ein Kunstkritiker. „Inzwischen sind Wort und Inhalt, wie man so sagt, ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, spätestens seit der "Spiegel" darüber sogar eine Titelgeschichte veröffentlicht hat.“ (2) „Nostalgie ist Utopie-Ersatz“, befand zur selben Zeit der ehemalige APO-Rebell Günter Maschke, der inzwischen seinen Frieden mit dem Establishment geschlossen hatte. „Am Herdfeuer der Utopie kann sich niemand mehr wärmen -also flüchtet man zurück zu jenen Augenblicken, als die Verwirklichung der Utopie nahe gerückt schien - wobei die damaligen Realitäten, tatsächlichen Umstände und Möglichkeiten meist unbehandelt bleiben.“ (3) Genau besehen waren allerdings schon in der Studentenrevolte nostalgische Elemente enthalten. Vordergründig war ihr Blick auf die Vergangenheit von Verachtung und Abscheu bestimmt: „Unter den Talaren - der Muff von tausend Jahren!“ Unverkennbar nostalgisch war aber schon die Parole: „Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten; wer hatte recht - Karl Liebknecht!“ Die Kostümierung vieler studentischer Rebellen im Revoluzzer-

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Nostalgie Look sprach ebenfalls Bände, so daß der bereits zitierte Kunstkritiker eine linke Nostalgie seit Mitte der sechziger Jahre glaubte feststellen zu können: „Sie sehen aus wie Eisner und Mühsam, sprechen von "Karl und Rosa", als wären Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ihre Intimfreunde, sie lesen Engels und Lunatscharski wie heutige Autoren, blättern in Benjamin wie ihre Vorväter in der Bibel, und man hat ganz den Eindruck, als sei Vorstellungswelt wie Vokabular (das jedem Arbeiter völlig unverständlich bleiben muß) auf 1848 oder die goldenen zwanziger Jahre zugeschnitten.“ Tatsächlich ist die Nostalgie, die anfangs der siebziger Jahre so plötzlich entdeckt und vom Staub der Wörterbücher befreit wurde, ein schon lange vorhandenes und weitverbreitetes Phänomen gewesen. Im Grunde tritt sie bereits in der antiken Sehnsucht nach dem „Goldenen Zeitalter“ und in der religiösen Elegie des „Paradieses“ auf. Zugleich wird in der Nostalgie auch ihr Gegenpol, die Utopie, konserviert, so daß sich Nostalgie und Utopie als kommunizierende Röhren des „Prinzips Hoffnung“ vorstellen lassen, mit dem einst Ernst Bloch das psychologische Grundgesetz der menschlichen Natur umreißen zu können glaubte. Im engeren Sinn, als diffuse Melancholie und Sehnsucht nach Zuständen der Vergangenheit, ist die Nostalgie allerdings ein Phänomen der Neuzeit. Das Mittelalter kannte solche Sehnsüchte nicht. Sie traten erst auf, als das Mittelalter selbst zum Objekt solcher Verklärung wurde. Dies geschah schon relativ früh im Ritter-Roman der späten Renaissance: „Schon im 16. Jahrhundert war die Ritter-Rüstung ein Kostüm, das Rittertum eine in der Wirklichkeit nirgends gelebte, illusionäre Lebensform, die Ritterdichtung eine literarische Mode.“ (4) Mit noch größerer Vehemenz bahnte sich im England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine nostalgische Verklärung alles Mittelalterlichen an. Diesem „gothic revival“ entsprang in der Literatur die „gothiv novel“ als Urahn der Ritter-, Schauer- und Gespenstergeschichten. Je nach Parteistandpunkt erschien dabei das Mittelalter mehr in den rosigen Farben einer heilen aristokratischen Welt oder im düsteren Licht der Inquisition. Beide Lager, den Tory wie den Whig, verband jedoch die Faszination durch eine imaginäre Vergangenheit, wie sie Horace Walpole mit seinem 1765 erschienenen Schauerroman „Das Schloß von Otranto“ inaugurierte und später besonders der Schotte Walter Scott in einer Flut von historischen Romanen auszumalen verstand. Aus lauter Nostalgie ließ sich damals mancher gutbetuchte Engländer ein „sham castle“ errichten, eine Pseudo-Ritterburg, die nichts als eine steinerne Attrappe war. Auch in der Literatur entstanden solche Blendwerke, die angebliche Texte aus dem Mittelalter darstellten und leichtgläubig als solche aufgenommen wurden, obwohl sie bei genauerem Hinsehen leicht als Fälschungen zu erkennen waren. Das wohl eindrucksvollste Beispiel für die verbreitete Flucht aus einer tristen Realität in die Nostalgie bietet der Knabe Thomas Chatterton (1752 - 1770), der zahlreiche Dokumente und Gedichte angeblich mittelalterlichen Ursprungs fabrizierte und damit zumindest die Bürger seiner Heimatstadt Bristol narrte, bevor er aus Verzweiflung Selbstmord beging. Die folgenreichste Fälschung produzierte der Schotte James Macpherson (1736 - 1796) mit seinem Ossian.Dabei handelte es sich um die angeblichen Gesänge eines Barden aus keltischer Vorzeit, die

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Nostalgie Macpherson in den schottischen Highlands entdeckt zu haben vorgab. Diese nostalgische Fälschung düpierte die gesamte damalige gebildete Welt. Sie galt als literarisches Jahrhundertereignis. So hat Goethe ganze Passagen des Ossian in seinen Werther übernommen und für den ersten Nachdruck in Deutschland eigenhändig das Titelblatt radiert. Herder ließ sich sogar noch auf dem Totenbett aus dem Ossian vorlesen (wir werden noch ausführlich auf diesen grandiosen Schwindel zurückkommen). Unverkennbar nostalgisch sind auch der Weltschmerz und die blaue Blume der deutschen Romantik. Im Unterschied zum englischen gothiv revival und auch zu Frankreich sucht die deutsche Romantik „nicht eine Gestalt, sondern eine Melodie, keine einzelne Form, sondern ein unendliches Sehnen, und soll sie den Gegenstand ihrer Sehnsucht benennen, so wählt sie Ausdrücke wie ‚ein geheimes Wort‘, ‚eine blaue Blume‘, ‚Zauber der Waldeinsamkeit‘“. (5) Von Nostalgie war jedoch bei alldem keine Rede, obwohl es sich zweifellos um solche handelte und obwohl es das Wort schon seit Ende des 17. Jahrhunderts gab. Die Nostalgie war nämlich ursprünglich ein medizinischer Begriff. Sie bezeichnete nichts anderes als Heimweh. Sie galt somit nicht einer zeitlich, sondern einer räumlich rückwärtsgewandten Sehnsucht. Das Wort nostalgia wurde von dem eidgenösssischen Arzt Johannes Hofer als humanistisch-gelehrte Neuschöpfung aus den griechischen Wörtern nostos (Heimkehr) und algos (Schmerz) zusammengefügt. Hofer verwendete es in einer medizinischen Abhandlung über das Heimweh, die 1688 unter dem Titel Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe erschien. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verweist Meyers Konversationslexikon zum Stichwort Nostalgie lakonisch auf das deutsche Stichwort Heimweh. Folgt man der DudenEtymologie, so wurde der Begriff Nostalgie sogar bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nur im Sinne von Heimweh gebraucht. Erst dann sei er unter dem Einfluß der angloamerikanischen nostalgia im Sinne der Sehnsucht nach Vergangenem auch im Deutschen allgemein üblich geworden. (6) Hinter diese Auskunft darf allerdings ein Fragezeichen gesetzt werden. Richtig ist wohl, daß sich die Nostalgie als Modewort der siebziger Jahre primär aus angloamerikanischen Quellen speiste. Die englische nostalgia war im 18. Jahrhundert von dem schottischen Arzt William Cullen aus der Hoferschen Abhandlung übernommen und als Fachausdruck für home sickness (Heimweh) in die Medizin eingeführt worden. Nach dem ersten Weltkrieg erfolgte dann eine Ausweitung und Popularisierung dieses Begriffs im Sinne von Sehnsucht nach Vergangenem. Zu den frühesten Belegen gehört der Roman "The lost girl" (1920) von D. H. Lawrence, in dem von der Sehnsucht nach der heidnischen Vorzeit (nostalgia of the heathen past) die Rede ist. (7) Erheblich früher hatte sich jedoch im Französischen ein Bedeutungswandel des Wortes vollzogen. In Frankreich war die nostalgie seit 1769 als medizinischer Fachausdruck für die maladie du pays (später mal du pays) übernommen worden. Aber schon 1843 ge-

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Nostalgie brauchte Balzac das Wort im Sinne einer unbestimmten Melancholie und Langeweile. Als Sehnsucht nach Vergangenem taucht es 1879 bei dem Schriftsteller André Theuriet auf. Im Sinne eines diffusen, unbefriedigten Wunsches gebraucht es 1867 Baudelaire. In ähnlichen Schattierungen verwenden es 1866 H. F. Amiel, 1872 Théophile Gautier oder 1895 Joris-Karl Huysmans. (8) Das heißt, daß die französische nostalgie spätestens seit dem Fin de siècle ihre exklusive Bedeutung im Sinne von Heimweh verlor und sich vom medizinischen Fachausdruck zum literarisch-psychologischen Terminus mauserte. Bei der überragenden Rolle, die damals noch französische Literatur und Kultur für das gebildete Deutschland spielten, konnte dieser Bedeutungswandel hierzulande nicht unbemerkt bleiben. Tatsächlich wurde etwa die nostalgie de la boue, die 1855 durch Emile Augiers Roman "Le Mariage d‘Olympe" in Umlauf kam, sowohl im Deutschen wie im Englischen zum geflügelten Wort für geheime bürgerliche Lüste und Sehnsüchte nach ungehemmtem Ausleben des Triebhaften. Damit bekam das Wort Nostalgie einen zwiespältigen Sinn: Zur Eindeutschung des lateinischen Wortes für Heimweh gesellte sich das buchstäblich identische französische Lehnwort, das von emotionaler Morbidität und Sittenverderbnis angekränkelt war. In den Fremdwörterbüchern vor dem ersten Weltkrieg wurde dieser Bedeutungswandel allerdings ignoriert und die Nostalgie noch immer exklusiv als Fremdwort für Heimweh erklärt. Man darf vermuten, daß die Verfasser dieser Fremdwörterbücher ebenso moralische wie sprachliche Puritaner waren und daß ihnen schon aus diesem Grund der "dekadente" Bedeutungswandel des Wortes suspekt war...

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Heimweh

Heimweh Wie die Entfremdung von der Heimat zum Problem wurde: Die "nostalgia" im Wandel des wissenschaftlichen Zeitgeistes Heimweh ist ein psychischer Zustand, den wohl jeder schon mal empfunden hat. Dennoch wird man das Wort in psychologischen Wörterbüchern und Stichwortverzeichnissen fast immer vergebens suchen. Man muß schon ziemlich viel Literatur wälzen, bis man wenigstens auf ein Stichwort wie "Heimweh, kindliches" stößt. (1) Wer versuchen sollte, das Heimweh unter dem alten medizinischen Fachwort Nostalgie nachzuschlagen, wird kaum bessere Erfahrungen machen. Wenn er Glück hat, findet er vielleicht die folgende Erklärung: „Die Nostalgie, welche in der romantischen Psychologie eine sehr große Rolle spielte und bis zur Jahrhundertwende als Ursache schwerer Depressionen galt, wird heute fast immer durch andere Termini (z. B. Regression) ersetzt.“ (2) Wer es noch genauer wissen will und die Literaturübersicht der American Psychological Association konsultiert, findet innerhalb von 16 Jahren gerade 25 Zeitschriftenaufsätze vermerkt, in denen das Heimweh (homesickness) eine Rolle spielt. Meistens steht dabei das Heimweh nicht im Mittelpunkt, sondern wird lediglich beiläufig erwähnt, zum Beispiel im Zusammenhang mit den Anpassungsproblemen von Ausländern, Flüchtlingen oder Studenten. (3) Das Heimweh ist für die moderne Psychologie und Psychotherapie offensichtlich kein sonderlich bewegendes Thema. Es wird nicht als eigenständiges psychologisches Problem gesehen, sondern eher als Symptom, das verschiedene Ursachen haben und ganz verschieden gedeutet werden kann. Zum Beispiel mag es der Psychoanalytiker als Zeichen einer Regression sehen oder der Verhaltenstherapeut als ungünstige Reaktion im Rahmen eines funktionalen Bedingungsmodells. Das war nicht immer so. Über Jahrhunderte hatte das Heimweh unter dem Fachausdruck „nostalgia“ seinen festen Platz in der medizinisch-psychologischen Literatur. Es genoß sogar eine Aufmerksamkeit, die uns heute übertrieben erscheinen mag. Es galt als morbus genuinus, als Krankheit an sich, die durch den Verlust der vertrauten Umgebung, die Beschaffenheit der Luft oder andere Umwelteinflüsse verursacht werde. Das Heimweh war ein Verhängnis wie andere Krankheiten, die den Menschen befallen können. „Der Sunnenberg gestorben von heimwe“, heißt es in einem Schreiben an den Rat der Stadt Luzern aus dem Jahre 1569. Das Schriftstück ist der bislang früheste Beleg für das

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Heimweh Wort Heimweh. (4) Ebenfalls in der Schweiz, in Basel, erschien 1688 die „Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe“ aus der Feder des Arztes Johannes Hofer. Sie enthielt erstmals das Kunstwort Nostalgia (aus griechisch nostos = Heimkehr und algos = Schmerz), das bis heute als medizinischer Fachausdruck für Heimweh dient. (5) Hofer sah die Ursache der Heimwehkrankheit im Wechsel der Umgebung, der mit veränderter Lebensweise, anderer Luft und fremden Bräuchen verbunden sei. Vor allem jungen Leuten falle es oft schwer, sich an fremde Sitten zu gewöhnen oder der heimatlichen Milch zu entbehren. Bei den Heimwehkranken blieben die Lebensgeister in jenen Fasern des Gehirnmarks gebunden, in denen die Vaterlandsideen eingeprägt seien. Die Lebensgeister könnten so nicht mehr in andere Teile des Gehirns gelangen und deren Funktionen unterstützen. - Aus heutiger Sicht eine barock-phantasievolle, im Grunde aber doch modern-ganzheitliche Sichtweise, die das Heimweh sowohl mit psychologischen wie physiologischen Gründen zu erklären versuchte. Das wirksamste Mittel zur Heilung des Heimwehs sah Hofer in der Rückkehr in die Heimat. Behelfsweise empfahl er ein Klistier zur Besserung der gestörten Einbildungskraft oder verschiedene Mixturen zur Linderung der Symptome. Im Laufe des 18. Jahrhunderts trat der psychologische Aspekt zugunsten rein physiologischer Erklärungen zurück. So sah der Aufklärer Johann Jakob Scheuchzer in seiner "Naturgeschichte des Schweizerlandes" (1705 - 1707) die eigentliche Ursache des Heimwehs in der Änderung des Luftdrucks. Wenn die Schweizer aus der feinen, leichten Luft ihrer Berge ins Flachland kämen, würde der höhere Luftdruck ihre weniger stabilen Hautfäserchen zusammendrücken, das Blut gegen Herz und Hirn treiben und so das Heimweh verursachen. Als Therapie empfahl Scheuchzer die Verbringung der Heimwehkranken auf höher gelegene Berge und die Einnahme von Stoffen, die zusammengepreßte Luft enthielten, wie Salpeter, Pulver und jungen Wein, um so den Druck im Inneren des Körpers zu erhöhen. (6) Ähnlicher Ansicht war der Abbé Jean-Baptiste Du Bos, der 1719 das Heimweh kurzerhand als „hemvé“ ins Französische übersetzte. Unter diesem Stichwort fand es 1765 Eingang in die große französische Enzyklopädie: „So nennt man man mancherorts, was wir als ‚la maladie du pays‘ umschreiben“, beginnt die von Louis de Jaucourt verfaßte Erklärung. Beim "hemvé" handele es sich um den „übermächtigen Wunsch, nachhause zurückzukehren“. Nach Ansicht des Abbé Du Bos beruhe dieser Wunsch auf „nichts anderem als einem Instinkt der Natur, der uns so mitteilt, daß die Luft, in der wir uns befinden, unserer Wesensart nicht so zuträglich ist wie die heimatliche Luft“. Der "hemvé" (das Wort führt im Französischen den männlichen Artikel) sei rein körperlich bedingt und könne deshalb nie zu einem geistigen Übel werden. Es seien einfach das Wasser und die ungewohnte Luft, die in der geschwächten menschlichen Maschine bestimmte Veränderungen und so ein Warnsignal bewirkten, da der Mensch über keinen unmittelbaren Sinn für die Beschaffenheit der Luft verfüge. Doch sei es relativ, welche Luft als wohltätig empfunden werde: Was für den Eingeborenen sehr bekömmlich sei, könne auf manche Fremde wie Gift wirken. Im übrigen dürfe der "hemvé" nicht mit jenen massiven Beschwerden verwechselt werden, die den Europäer beim Wechsel in ein tropisches Klima zu befallen pflegten. (7)

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Heimweh

In der deutschen Enzyklopädie von Zedler (1735/40) finden sich ähnliche Auskünfte. Auch hier werden Wasser und Luft für das Heimweh verantwortlich gemacht. Zugleich wird betont, daß das Übel vor allem an Schweizern beobachtet werde, „wenn sie sich an solchen Orten aufhalten, die wässerig, und dem Meere nahe sind“. Ein gewisser D. Schmuchzer - gemeint ist wohl der bereits erwähnte Scheuchzer - schreibe dies der reinen, leichten Luft zu, welche die Schweizer in ihren Bergen gewohnt seien, wogegen die Luft an feuchten und niedrigen Orten dick und unrein sei, was über eine Verdickung der Körpersäfte zu leiblicher Trägheit und Gemütsunlust führe. Geholfen werden könne den Kranken am ehesten, indem man sie in hohen Gebäuden, Türmen und dergleichen einer frischeren Luft aussetze. Es handele sich indessen um eine Krankheit, die bislang nur von wenigen Medizinern behandelt, ja kaum beobachtet worden sei. In Frankreich, wo viele Schweizer damit behaftet seien, werde sie "la maladie du Pais" genannt. Es gebe auch die Ansicht, daß die Einwohner des Kantons Bern besonders dafür anfällig seien. Als weitere Variante im Wettstreit der wissenschaftlichen Meinungen wird die Ansicht eines Georg Detharding angeführt, der in seiner „Disp. de Aere Rostoch“ die gute Luft der Hansestadt Rostock gerühmt und das Heimweh der Schweizer auf deren lange „Gewohnheit an eine unreine, inner denen Bergen eingeschlossene Lufft“ zurückgeführt habe. (8) Die mechanistische Sichtweise des Menschen einschließlich der Seele ist in solchen Auskünften unverkennbar. Psychische Vorgänge waren nur als Stoffwechselprodukte vorstellbar. Der Zeitgeist - auch und gerade der wissenschaftliche - verlangte nach handfesten, materialistischen Erklärungen, auch für seelische Erscheinungen. Selbst ein Phänomen wie das Heimweh, das uns heute so simpel erscheint, mußte mit der physikalischen Beschaffenheit der Luft und anderer Einflüsse erklärt werden. Allerdings setzte sich diese mechanistische Sichtweise nie vollends durch. Der Schweizer Gelehrte Albrecht von Haller revidierte 1777 seine anfänglich physiologische Sichtweise des Heimwehs, indem er dessen Ursache in der Trennung von der vertrauten Umgebung erblickte. Der deutsche Gelehrte J. Fr. Cartheuser hielt in einer 1771 veröffentlichten Abhandlung die Luftdruck-Theorie zwar für einleuchtend, aber doch für ergänzungsbedürftig: Auch psychische Einflüsse könnten die Nostalgie hervorrufen und wieder zum Verschwinden bringen. Noch entschiedener widersprach 1783 der Göttinger Professor Blumenbach der Luftdruck-Theorie. Für ihn war das Heimweh eine reine Gemütskrankheit, die ihre Ursache im Kontrast zwischen Heimat und Fremde, in einem allen Menschen eingepflanzten Hang zum „dulce natale solum“ habe. Anfang des 19. Jahrhunderts triumphierte dann die psychologische Sichtweise. Der wissenschaftliche Paradigmenwechsel war dabei wiederum in den Zeitgeist eingebettet. Die Romantik entdeckte nun das Wort Heimweh, das noch für Goethe und Schiller nicht schriftfähig gewesen war, und führte es in die Literatur ein. Ganz diesem Geist der Romantik verhaftet war die 1835 erschienene Abhandlung „Das Heimweh und der Selbstmord“ von Julius Heinrich Gottlieb Schlegel. Unter Beibringung zahlreicher Literaturzitate wandte sich der Autor gegen die Ansicht, daß das Heimweh durch die Luftveränderung oder einen angeborenen Heimat-Instinkt verursacht werde. Wenn jemand heimwehkrank werde, sei

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Heimweh dies vielmehr auf die besonders intensiven Eindrücke der Kindheit zurückzuführen. „Daher bleibt ihm auch in späteren Jahren, oft ohne es zu wissen, Vorliebe zu dem, was ihm am frühesten tief zugesagt hatte.“ In der romantischen Literatur wurde das Heimweh zum Gemütswert, zu einer frühkindlichnaiven und deshalb besonders engen Bindung an Familie, Heimat und Natur, die im Erwachsenen weiterlebt. Die Betonung der frühkindlichen Eindrücke findet sich später, neben dem „Unbewußten“ und weiterem romantischen Ideengut, in Freuds Psychoanalyse wieder. Vor allem aber prägte sie entscheidend das noch heute herrschende Verständnis von Heimweh als einer rückwärtsgewandten Sehnsucht, die innerhalb bestimmter Grenzen als normal und sogar als Ausweis einer geglückten kindlichen Sozialisation gelten kann. Die medizinisch-psychologische Literatur des 19. Jahrhunderts interessierte sich dagegen mehr für die pathologische Seite des romantischen Heimwehs, die jenseits der Normalität lag und angeblich zu Wahnsinn, Selbstmord, Brandstiftung, Kindstötung und anderen Verbrechen führte. Von Zangerl (1840) und Jessen (1841) wurde das Heimweh als psychischer Defekt, individuelle Schwäche, Problem von Außenseitern, ja als psychiatrisch-forensisches Problem behandelt. Ludwig Meyer stellte 1855 unter dem Titel „Der Wahnsinn aus Heimweh“ fünf Fälle von Berliner Dienstmädchen vor, bei denen aufgrund des Heimwehs Halluzinationen und andere geistigen Störungen aufgetreten seien. Noch 1909 promovierte Karl Jaspers mit einer Dissertation über „Heimweh und Verbrechen“. In diesem Arbeiten wurde der Schwerpunkt auf mangelnde Anpassungsfähigkeit und beschränkten Horizont der Heimwehkranken gelegt. Das Heimweh galt als Problem von Dienstboten und anderen deklassierten Bevölkerungsgruppen, die im Zuge der industriellen Revolution der vertrauten heimatlich-engen Umgebung entrissen worden waren. Als Problem der Normalpsychologie wurde das Heimweh erstmals 1925 behandelt: „Das Heimweh ist keine Krankheit“, stellte der Psychologe Karl Marbe fest. „Es beruht auch durchaus nicht auf psychopathischer Konstitution, wenn es auch bei gewissen Psychopathen in besonders intensivem Grade auftreten und hier besonders schwere psychische und somatische Folgeerscheinungen hervorrufen kann. Auch wenn die Annahme richtig sein sollte, daß starkes Heimweh auch bei Geistesgesunden zu vorübergehender Geistesstörung führen kann, wäre dies kein Beweis für seinen psychopathischen Charakter. Das Heimweh ist ein ganz normales Verhalten bestimmter, auch völlig gesunder Personen, das an bestimmte Bedingungen der Umwelt geknüpft ist. Das Heimweh ist auch nicht notwendig ein Zeichen eines beschränkten Horizontes; es kann vielmehr Gebildete und Ungebildete, Alte und Junge erfassen.“ (9) Marbe hielt es für möglich, das Heimweh mit Methoden der experimentellen Psychologie zu erfassen. Es bestehe nämlich zweifellos eine Korrelation zwischen der Anfälligkeit für Heimweh und der „Umstellbarkeit“ von Personen. Diese Umstellbarkeit lasse sich aber experimentell untersuchen. Zum Beispiel, indem der Experimentator dem Probanden ein Ball zuwirft, den dieser abwechselnd im Ober- und Untergriff auffangen muß. In den sechziger Jahren hat sich Charles Zwingmann mit dem Heimweh befaßt und den

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Heimweh kulturkritisch gefärbten Begriff des „nostalgischen Phänomens“ geprägt. Er verstand darunter die „symbolische Rückkehr zu oder Vergegenwärtigung von solchen Ereignissen (Objekten) des Erlebnisraums, die den größten Satisfaktionswert bieten“. Die nostalgische Sehnsucht konnte für ihn genauso geografisch wie zeitlich rückwärtsgewandt sein. Zwingmann verknüpfte so die klassische "nostalgia" des Heimwehs mit der modernen Nostalgie. (10) Wesentliche neue Aspekte haben sich seitdem nicht ergeben, zumal das Heimweh zu den eher stiefmütterlich behandelten Themen der Psychologie gehörte. Ziemlich skurril muten heute die Deutungen orthodoxer Psychoanalytiker an, die in der nostalgischen Reaktion eine unbewußte Sehnsucht nach der intrauterinen Vergangenheit im Mutterleib (Fodor, 1950), nach der Brust der Mutter (Sterba, 1940) oder gar nach dem Penis des Vaters (Nikolini, 1926) zu erkennen vermeinten. Mit etwas Gespür für das historische Umfeld läßt sich hinter all diesen Theorien der Einfluß des Zeitgeistes erkennen. Das fängt an mit der vergleichsweise modern-psychosomatisch anmutenden Sichtweise Hofers, die noch der ganzheitlichen Medizin eines Paracelsus verpflichtet ist. Es geht weiter mit der Luftdruck-Theorie Scheuchzers, des Abbé Du Bos und der französischen Enzyklopädie, die das Heimweh ins Prokrustesbett der materialistischen Aufklärung zwängt. Der Widerspruch, den Cartheuser, Blumenbach und andere Gelehrte dagegen anmelden, entspricht dem eher idealistischen Geistesklima Deutschlands. Die psychologisierende Interpretation J. H. G. Schlegels ist eindeutig der Romantik verpflichtet. Ludwig Meyers psychiatrisches Interesse an den Nachtseiten des Heimwehs kündet von der Verschmelzung dieses romantischen Erbes mit dem seichten Geist des Vulgärmaterialismus, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch bei der Entstehung von Freuds Psychoanalyse nachweisen läßt. Karl Marbes Einschätzung des Heimwehs als Problem der Normalpsychologie paßt zur "neuen Sachlichkeit" der zwanziger Jahre (und verweist nebenbei auf psychologische Grundlagen der Ästhetik). Hinter Zwingmanns "nostalgischem Phänomen" schließlich erkennt man den bildungsbürgerlichen Degout vor der „US-Kultur“ der Nachkriegsjahre, welche die Zeit zum „progressiven Entwerter des Menschen“ mache und so die nostalgische Sehnsucht nach der Stabilität früherer Werte hervorrufe.

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Die „Schweizerkrankheit“

Die „Schweizerkrankheit“ Die magische Wirkung des Kuhreigen Weshalb die Eidgenossen als besonders anfällig für das Heimweh galten Über die Geschichte des Wortes Heimweh sind wir dank einer Reihe von Autoren - hier wäre etwa die Abhandlung von Ina-Maria Greverus über "Heimweh und Tradition" (1965) zu nennen - relativ gut informiert. Was bislang jedoch zu fehlen scheint, ist eine umfassendere Antwort auf die naheliegende Frage, weshalb ein „Phänomen, das immer gewesen ist und immer sein wird“, wie Greverus meinte, erst im 16. Jahrhundert schriftliche Erwähnung fand, über ein Jahrhundert später zum medizinischen Krankheitsbegriff avancierte und weshalb dies alles in der Schweiz geschah. Bis ins 19. Jahrhundert heben alle Auskünfte zum Thema Heimweh die besondere Anfälligkeit der Schweizer hervor. Mitunter wird sogar einfach von der „Schweizerkrankheit“ gesprochen. Später werden - etwa in der Enzyklopädie von Ersch/Gruber (1828) - auch andere Völker wie Lappländer, Eskimos, Sibirier und Schotten für besonders heimwehgefährdet gehalten. Immer wieder wird auch die Geschichte vom „Kuhreigen“ kolportiert, einer volkstümlichen Schweizer Melodie, bei deren Klang die Schweizer Söldner in Frankreich und den Niederlanden massenhaft erkrankt oder desertiert seien. Die Geschichte findet sich schon in der Neuherausgabe von Hofers "Nostalgia", die Theodor Zwinger 1710 veranlaßte. Zwinger hatte sogar die Melodie des Kühe-Reyens beigefügt. 1764 wird dieselbe Geschichte von Rousseau, 1823 von Goethe erwähnt. Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts findet sie sich unter dem Stichwort Heimweh in Meyers Konversationslexikon. Eine bemerkenswerte Variante steuerte 1828 die Enzyklopädie von Ersch/Gruber bei: Ähnliche Wirkung wird hier dem schottischen Dudelsack nachgesagt, wie überhaupt nun die Nordländer die bislang exklusive Stellung der Schweizer als Heimweh-Opfer zu erschüttern scheinen. Die besondere Anfälligkeit der Schweizer macht stutzig, zumal ein geneigter Zeitgeist später auch Nordländer und Küstenbewohner miteinbezieht und als krankheitsbegünstigende Umstände die „Einfachheit ihrer Sitten und die Großartigkeit ihrer Natur“ ansieht. Es ist nicht anzunehmen, daß es sich hierbei um das Ergebnis empirischer Heimweh-Studien gehandelt hat. Überhaupt scheint die praktische Bedeutung der HeimwehKrankheit im umgekehrten Verhältnis zu dem Papier gestanden zu haben, das auf sie verwendet wurde: In der französischen Enzyklopädie 35 Druckzeilen, bei Zedler 175 und bei Ersch/Gruber 106. - Diese Heimweh-Kranken scheinen eher ideologische Persönlichkeiten zu sein. Sie sind Naturburschen, die es nur in einer großartigen Landschaft mit großartigen Sitten aushalten.

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Die „Schweizerkrankheit“ Hinter dem Schotten, der zu Anfang des 19. Jahrhunderts in die Reihe der HeimwehKranken eintritt, erkennt man leicht das zeitgenössische Bild vom melancholisch-stolzen Highlander, der um seine an England verlorene Freiheit trauert. Vermutlich spielte dabei auch der „Ossian“ eine Rolle, dessen elegische Barden-Gesänge und nebelverhangene Landschaften damals durch die Köpfe spukten. Der klassische Naturbursche blieb aber, aller nordländischen Konkurrenz zum Trotz, seit dem 18. Jahrhundert zweifellos der Schweizer. Die Eidgenossenschaft galt dem gebildeten Europa als eine Art alpenländisches Arkadien, in dem die Menschen - von der Zivilisation noch unverdorben - weitgehend im Einklang mit sich und der Natur lebten. In den fürstlichen Gärten dieser Zeit legte man dörfliche Idyllen an, die als „Schweizerei“ bezeichnet wurden und wie die „Meierei“ zu den Requisiten des Schäferspiels gehörten. Noch in den Sanatorien des 19. Jahrhunderts gab es „Schweizerhäuser“ mit Stallungen im Erdgeschoß, um Ambiente und Düfte gesunden Landlebens in den Dienst der Genesung zu stellen. Und noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Johanna Spyris "Heidi" ein langandauernder Jugendbucherfolg - die Geschichte eines Naturkindes von der Alm, das im fernen Frankfurt vor Heimweh immer kränker wird, bis es durch die Rückkehr in die Schweiz wieder aufblüht und die kranke Freundin aus Frankfurt gleich mitgesunden läßt. Der Schweizer war sozusagen der nicht-entfremdete, der Natur noch am nächsten stehende Mensch. Zumindest in den Augen anderer Europäer. Dem Stereotyp tat auch keinen Abbruch, daß der bekannteste Schweizer dieser Zeit, Jean-Jacques Rousseau aus Genf, ein neurotisches Nervenbündel war... Rousseau hat sich selber fleißig an der Idealisierung der Schweiz beteiligt. In seiner „Nouvelle Héloise“,die 1761 erscheint und die fiktiven „Briefe zweier Liebender aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen“ zum Inhalt hat, schildert er den Widerstreit der Gefühle, in den die beiden Liebenden durch die letztliche Unvereinbarkeit ihres persönlichen Fühlens, Denkens und Wollens mit den Konventionen und Ansprüchen der Gesellschaft gestürzt werden. Über diesem Konflikt zweier Liebender, die infolge unnatürlicher Zwänge nicht zueinander kommen können, erhebt sich die Landschaft der Walliser Alpen zu wilder, großartiger Schönheit, die nur noch durch die Sitten der Dorfbewohner in den abgelegenen Tälern übertroffen wird. Hier sucht und findet der unglücklich Liebende den inneren Frieden, den er unten, am Fuß der Alpen, verloren hat. Schon die natürliche Umgebung der Berglandschaft genügt, um den Widerstreit der Gefühle aufzulösen: „Und so trägt eine wohltätige Ortslage durch dieselben Leidenschaften, die dem Menschen nur Qual bereiten, zu seiner Glückseligkeit bei.“ (1) Rousseaus Held rühmt die reinere und dünnere Luft der Berge, in der es sich leichter atme und der Geist heiterer werde. Er wundert sich, weshalb „die heilsamen und wohltätigen Luftbäder der Gebirge nicht zu den vorzüglichen Heilmitteln der Medizin und Moral gerechnet werden“. Dennoch dürfte er kaum ein Plädoyer für die Errichtung von Sanatorien in den Alpen beabsichtigen. Die Hochgebirgslandschaft ist kein geographischer, sondern ein psychischer Topos. Sie dient ihm lediglich als Symbol für die verlorene und neu herbeigesehnte Übereinstimmung des Menschen mit der Natur. Sie ist eine Allegorie der arkadischen Gefilde, in denen sich Leid in Lust und Schmerz in Glück verwandelt. Und die

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Die „Schweizerkrankheit“ unstillbare Sehnsucht seines Helden ist nicht mehr die alte Heimweh-Krankheit des Schweizer Söldners, sondern bereits der Urschrei der Entfremdung, wie ihn Rousseau kurz darauf in seinem „Contrat social“ zu Papier bringt: „Das macht unser menschliches Elend und den Widerspruch aus, der sich zwischen unserem Zustand und unseren Wünschen, zwischen unseren Pflichten und unseren Neigungen, zwischen der Natur und den gesellschaftlichen Institutionen, zwischen dem Menschen und dem Staatsbürger findet.Macht den Menschen zur Einheit, und ihr werdet ihn so glücklich wie möglich machen. Übergebt ihn vollkommen dem Staat oder überlaßt ihn vollkommen sich selbst. Wenn ihr sein Herz aber teilt, zerreißt ihr es...“ (2) Bei Rousseau wird deutlich, wie die zunächst noch recht konkrete Sehnsucht nach der Heimat von der Sehnsucht nach einem glückseligen Ort schlechthin abgelöst wird. Dieser Ort ist noch immer räumlich bezogen. Er befindet sich entweder in den Alpen oder einer sonstigen großartigen Landschaft. Er löst sich aber bereits im Nirgendwo auf, wird immer mehr zur bloßen Metapher für ein unstillbares Sehnen, das weder in Raum noch Zeit Erfüllung finden kann. So wandelt sich die "Schweizerkrankheit" des Heimwehs zur modernen Nostalgie, zur diffusen Sehnsucht nach Überwindung eines Mangelgefühls, das spätere Philosophen als "Entfremdung" beschreiben. Es war kein Zufall, daß sowohl das Wort Heimweh wie die erste medizinische Abhandlung dazu in der Schweiz entstanden. Die vielfach erzählte Geschichte vom "Kuhreigen" liefert uns den Schlüssel zu einer Erklärung. Sie verweist nämlich auf das Söldnerwesen und den schwunghaften Handel, den die damalige Schweiz mit ihrer überschüssigen männlichen Bevölkerung betrieb. Schon seit dem 13. Jahrhundert verdingten sich junge Schweizer, denen die karge Heimat kein Auskommen bot, an den König von Frankreich, an den Kaiser, an den Papst, die Herzöge von Lothringen, an Mailand, Savoyen oder den König von Ungarn. Dieser „Reislauf“ bildete für die Kantone eine wichtige Einnahmequelle. Sie schlossen förmliche Verträge mit den auswärtigen Mächten, die für den Menschenhandel beträchtliche Provisionen zahlten, die man Pensionen nannte. Daneben flossen erhebliche Summen heimlich in die privaten Schatullen einflußreicher Kantonsvertreter. Dieser Menschenhandel wurde besonders seit dem 15. Jahrhundert üblich. Wichtigster Abnehmer war der König von Frankreich, der sich 1474 durch ein Abkommen mit zehn Kantonen die regelmäßige Überlassung junger Männer für den Kriegsdienst sicherte. Ähnliche Verträge gab es auch mit den Niederlanden, so daß sich in der Schlacht von Malplaquet (1709) auf beiden Seiten Schweizer Söldner gegenüberstanden und im Dienste ihrer jeweiligen Kriegsherren massakrierten. (3) Die Schweizer waren also weitaus eher als die Angehörigen anderer Völker ihrer Heimat entfremdet und entsprechend für das Heimweh anfällig. Dennoch erhebt sich die Frage, weshalb das Wort - und vermutlich auch der damit bezeichnete mentale Zustand - erst nach mehreren hundert Jahren des Reislaufs auftauchte. Die Schweizer des 16. Jahrhun-

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Die „Schweizerkrankheit“ derts scheinen aus irgendeinem Grund erheblich sensibler gewesen zu sein als die früheren Söldner. Jahrhundertelang hatte die geografisch-mentale Entfremdung von der Heimat keine besonderen Beschwerden verursacht. Erst jetzt wurde sie problematisiert. Auch dafür findet sich eine Erklärung: Die neue Sensibilität hatte mit der Reformation zu tun, die Zwingli 1519 in Zürich begann und die Calvin in der Westschweiz fortsetzte. Zum Reformprogramm gehörte ausdrücklich die Abschaffung des Reislaufs und des Pensionenwesens. Zwingli hatte einst als Pfarrer selbst zu den Schweizer Söldnern gehört, die in den Jahren 1512 - 1515 für Papst Julius II. in der Lombardei gegen den französischen König kämpften. Das Blutbad der Schlacht von Marignano hatte ihn tief erschüttert. Den Pensionenempfängern und Reisläufern hielt er fortan vor: „Unsere Vordren hand nit umb Lon Christenlüt zuo Todgeschlagen, sunder umb Fryheit allein gestritten, damit ihr Lyb, Leben, Wyber, Kinder ein uppigen Adel nit so jämmerlich zuo allem Muotwillen underworffen werde.“ (4) Man darf bezweifeln, ob Zwingli dieselbe Erfahrung hundert Jahre früher in derselben Weise problematisiert hätte. Und selbst wenn: ob er dann solches Gehör damit gefunden hätte. Inzwischen war aber die Zeit für neue Wertvorstellungen reif. In reformierten Kantonen wie Zürich waren Gewerbe und Handel weiter fortgeschritten als in den katholischen Kantonen. Es machte hier wirtschaftlich wenig Sinn, kräftige junge Männer gegen Pensionen ins Ausland zu schicken, um sie als Söldner für auswärtige Mächte töten oder verkrüppeln zu lassen. Entsprechend offene Ohren fand Zwingli in Zürich, wenn er die Korruptheit von Bischof und Nuntius geißelte, die dem Papst weiterhin Landeskinder als Söldner zuführen wollten: „Sy tragend rote Hüet und Mäntel, schütte man sie, so fallind Duggaten und Kronen herus, winde man sy, so ründt dines Suns, Bruoders, Vatters und guoten Fründts Bluot herus!“ Zwingli erreichte so, daß der Züricher Rat den Reislauf und das Pensionenwesen unter Androhung strengster Strafen verbot. Dagegen verfügten die bäuerlichen Kantone der inneren Schweiz weiterhin nur über eine beschränkte, agrarische Existenzbasis. Diese katholischen Kantone, vor allem Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug, widersetzten sich deshalb dem Ansinnen Zwinglis erfolgreich. Erst 1859 erging ein Bundesratsbeschluß, der den Reislauf in der gesamten Schweiz untersagte. Halten wir also fest: Ein halbes Jahrhundert, nachdem Zwingli gegen den Reislauf zu Felde zog, tauchte erstmals das Wort Heimweh auf. Und nochmals ein gutes Jahrhundert später unterstellte der Mediziner Hofer im reformierten Basel diesem Heimweh sogar Krankheitswert. Im Zuge der Reformation wurde so der Söldnerdienst seiner bisherigen Selbstverständlichkeit entkleidet. Er galt nunmehr in weiten Kreisen nicht nur als ethisch suspekt, mit christlichen und nationalen Grundsätzen unvereinbar, sondern auch aus medizinischer Sicht als bedenklich. Dem Heimweh wurde die Qualität einer Krankheit zuerkannt. Das Heimweh war also nicht nur individualpsychologisch etwas Neues, sondern ein sozialpsychologischer Fortschritt. Es war Teil der protestantischen Ich-Findung auf dem Wege zum modernen Menschen, der das Mittelalter hinter sich gelassen hatte.

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Die „Schweizerkrankheit“ Untersucht man die sprachlichen Wurzeln des Wortes Heimweh, so macht man erneut eine überraschende Entdeckung: Die begriffliche Veränderung vom Heimweh zur modernen Nostalgie war etymologisch bereits vorgezeichnet. In der räumlichen Entfremdung steckte von Anfang an ein Stück existenzieller Entfremdung. Daß der Wortbestandteil -weh soviel wie Schmerz, Sehnsucht, Ungemach bedeutet, kann als unstrittig gelten. Die Analyse des Wortbestandteils Heim führt dagegen zu unterschiedlichen Verästelungen des Wortstammes, nämlich zu Heim und Heimat. Das germanische heim diente im Alt- und Mittelhochdeutschen als Ortsbestimmung im Sinne von Haus, Wohnstatt. Es hat sich bis heute in zahlreichen Ortsnamen (englisch: -ham; schwedisch: -hem) erhalten. Das Wort Heimat leitet sich dagegen vom althochdeutschen heimôti bzw. vom mittelhochdeutschen heimôte ab. Dieses Wort wurde von Theologen geprägt und noch in frühmittelhochdeutscher Zeit ausschließlich zur Bezeichnung des Jenseits, des Himmelreichs verwendet. Erst gegen 1200 greift der geistliche Begriff heimôti allmählich auch in den weltlichen Bereich über. Die Sehnsucht nach der heimôti war also ursprünglich die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, nach Jenseits und Erlösung aus dem irdischen Jammertal. Erst später wurde aus der himmlischen heimôti die irdische Heimat. Bevor es zu dieser Verweltlichung der himmlischen heimôti und der ihr geltenden Sehnsucht kam, dürften weder Heimatgefühle noch Heimweh in der Psychologie des mittelalterlichen Menschen eine Rolle gespielt haben. Alles Diesseitige - mithin auch die Heimat im späteren Sinn - gehörte vielmehr zum ellende, wie die geistliche Bezeichnung für das irdische Dasein lautete. Dieses ellende bildete den Gegenpol zur himmlischen heimôti und war vom althochdeutschen alilenti abgeleitet, das soviel wie fremdes Land, Verbannung bedeutete. Die irdische Existenz samt der geografischen Heimat wurde mithin als Fremde empfunden. Sie galt, gemäß der biblischen Legende vom Sündenfall, als Ort der Verbannung, der Ausstoßung aus dem Paradies. (5) Das erwähnte althochdeutsche alilenti weist seinerseits interessante etymologische Bezüge auf. Zum einen enthält es das spätere Wort Elend. Zum anderen ist es verwandt mit dem lateinischen alienatio, das soviel wie Entwendung, Entäußerung oder Veräußerung bedeutet. Von daher stammt wiederum der Begriff alienation, der sowohl im Französischen als auch im Englischen für die philosophische Kategorie der Entfremdung verwendet wird. Die himmlische heimôti ist also ursprünglich der Gegenpol zum irdischen ellende.Sie gründet auf der Überzeugung, daß am Ende aller Tage das Jenseits stehen wird. Sie ist metaphysisches Heimweh nach dem verlorengegangenen Paradies. Sie ist gleichsam eine frühe Variante jenes psychischen Zustands, der heute als Entfremdung bezeichnet wird. Für Heimweh-Gefühle im späteren Sinn scheint in diesem Weltbild kein Platz gewesen zu sein. Falls es sie überhaupt gab, sind sie von der Religiosität des mittelalterlichen Menschen in ähnlicher Weise überlagert und vereinnahmt worden wie bei den Teilnehmern der Kreuzzüge, die massenhaft ihre geografische Heimat im Stich ließen, um ihre spirituelle Heimat im Heiligen Land zu suchen.

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Die „Schweizerkrankheit“ Die Reformation erfüllte dieses metaphysische Heimweh mit einem neuen Inhalt. Die Sehnsucht nach der himmlischen heimôti wurde reformiert, säkularisiert, ins Irdische verlegt. Sie fand vom Mittelalter zur Sprache der Neuzeit. Sie verpuppte sich gleichsam im Heimweh, das den späteren Schmetterling der Nostalgie enthielt. Bevor dieser der Hülle entschlüpfen konnte, machte er aber noch etliche Zwischenstadien durch. Eines der wichtigsten war der Traum von Arkadien.

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Arkadien

Arkadien Der Traum vom irdischen Paradies - Wie die Schäferidylle die christliche Religion über zwei Jahrtausende begleitete In Großmutters Schlafzimmer hing es noch: Ein monströses, rechteckiges Tafelbild, auf dem ein Schäfer seine Herde hütete, während späte Sonnenstrahlen den „Abendfrieden“ in rosig-warmes Licht tauchten. Das gute Stück gehörte zum kleinbürgerlichen Interieur wie die gestickten Sinnsprüche und die Delle im Sofakissen. Die pastorale Augenweide hatte ihren Platz genau in der Mitte über dem ehelichen Doppelbett und ließ ahnen, wie aufregend Opa und Omas Schäferstündchen darunter gewesen sein mochten. Die spießige Idylle war abgesunkenes Kulturgut. Sie war ein letzter Abglanz Arkadiens, das als poetische Variante des Paradieses die christliche Religion über fast zwei Jahrtausende begleitet hat. Seinen Höhepunkt erreichte der Traum von Arkadien aber erst mit Beginn der Neuzeit, als sich die religiösen Mythen zu verdinglichen begannen. Der Name Arkadien leitet sich von der griechischen Landschaft gleichen Namens ab, ein von Bergen umschlossenes Hochland in der Mitte des Peloponnes. Das reale Arkadien kann allerdings nicht als besonders idyllisch gelten. Das Hirtenvolk, das hier lebte, führte auch in der Antike ein eher beschwerliches Dasein. Es mußte deshalb wohl einen anderen Grund haben, daß ausgerechnet dieser karge Landstrich zum Inbegriff bukolischer Poesie und friedvoller Idylle werden konnte. „Aber die alte unverdorbene Sitte und mit ihr Kraft, Wohlsein und Frohsinn erhielten sich und herrschten noch in Arkadien, als das üppige Griechenland bereits moralisch untergegangen war“, glaubte Meyers Konversationslexikon von 1902 zu wissen. „So kam es, daß die Dichter Arkadien als das Land der Unschuld und des stillen Friedens priesen.“ Das Lexikon irrte. In Wirklichkeit waren es andere Gründe, welche die eher herbe griechische Landschaft zum Inbegriff der Sehnsucht werden ließen. Arkadien war von Anbeginn eine Fiktion, ein poetisches Traumland, das im Kopf des römischen Dichters Vergil entstand, als er um das Jahr 42 v. Chr. an seinen Hirtengedichten schrieb. Hirtengedichte waren an sich nichts neues. Schon der griechische Dichter Theokrit, der etwa von 300 bis 260 v. Chr. lebte, ließ in seinen Gedichten Hirten auftreten. Es handelte sich dabei um Hirten seiner sizilianischen Heimat, die realistisch-ironisch in ihrem alltäglichen Milieu geschildert wurden. Die Hirten Vergils waren jedoch von anderer Natur. Sie führten ein abgehobenes, entrücktes, verklärtes Dasein. Sie waren keine realen Hirten mehr, sondern mythische Gestalten, Symbole der Sehnsucht nach einer friedvollen, heiteren Welt.

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Arkadien So erwartet auch Vergil, in frappanter Übereinstimmung mit der christlichen Heilslehre, in der 4. Ekloge seiner Hirtengedichte von der Geburt eines Knaben den Anbruch einer neuen seligen Zeit. - Umgekehrt klingt es wie eine Szene aus seinen Hirtengedichten, wenn die biblische Überlieferung den Jesusknaben im Stall, als Kind in der Krippe, zur Welt kommen und die Hirten auf dem Felde sich zu seiner Begrüßung einfinden läßt. Vergils Hirten waren Spiegelbild der geistig-moralischen Krise, die das römische Reich auf dem Höhepunkt seiner Machtenthaltung befiel und seinen Untergang einleitete. Der Bürgerkrieg und Cäsars Ermordung waren noch frisch in Erinnerung. Die alten Götter hatten ihre Überzeugungskraft verloren. Sie waren ins Metaphorische entrückt, zu bloßen Symbolen geworden. Die geistige Krise offenbarte sich im Kaiserkult, der mit der Apotheose von Cäsar und Augustus begann und ab Commodus die Kaiser zu Göttern in menschlicher Gestalt erhob. - Götter der Staatsräson, die die Verbreitung anderer Kulte, darunter das Christentum, nicht aufzuhalten vermochten. Die damalige Endzeit-Stimmung nährte sich aus der antiken Vorstellung von den Weltperioden: Der alte Äon schien am Ende zu sein und der Anbruch eines neuen „Goldenen Zeitalters“ bevorzustehen. Auch die christliche Verheißung war noch nicht ins Jenseits verschoben. Wenn Christus davon sprach, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei (Johannes 18, 36), mußte diese Botschaft im Ohr der Zeitgenossen wie die Ankündigung eines neuen Goldenen Zeitalters klingen. Nach Überzeugung von Ernst Bloch war die Botschaft ursprünglich auch so zu verstehen. Erst das paulinische Christentum habe den irdischen Chiliasmus ins Überirdische entrückt. (1) Die Hirten Vergils waren ebenfalls nicht von dieser Welt. Sie erfreuten sich zeitloser Jugend in einer zeitlos-schönen Landschaft. Als poetische, profane Variante des verlorenen und wiederzugewinnenden Paradieses zehrten sie von derselben Sehnsucht nach einer neuen goldenen Zeit, auf der auch die christliche Religion Wurzeln schlagen und ihren Siegeszug antreten konnte. Mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit hatten sie nur insoweit zu tun, als sie deren desolate Verfassung im Wunschbild einer besseren Welt spiegelten. Deshalb konnten die Hirten auch nicht, wie noch bei Theokrit, einfach in Sizilien angesiedelt werden, wo die realen Hirten längst ein unfreies Dasein im Dienst der römischen Großgrundbesitzer führten. Wohin also mit den Hirten? - Als belesener Mann wußte sich Vergil zu helfen. Aus den Schriften des Historikers Polybios kannte er Arkadien als ein Land der Hirten. Vor allem wußte Polybios zu berichten, daß sich die Bevölkerung Arkadiens von Jugend an im Gesang übe und mit großen Eifer musikalische Wettbewerbe veranstalte. Diese musischen Hirten paßten hervorragend ins bereits vertraute Repertoire der Hirtendichtung. Schon bei Theokrit üben sich die Hirten in musikalischen Wechsel- und Wettgesängen. So kam es, daß Vergil das Land in der Mitte des Peloponnes, das er weder kannte noch jemals zu Gesicht bekam, zum Schauplatz seiner Eklogen erkor. Dieses Arkadien gehörte erklärtermaßen zur Welt des schönen Scheins. Es war nicht einmal eine Utopie, sondern eine bukolische Phantasie. Da es keinen Anspruch auf Realität erhob, war es auch über jeden Verdacht erhaben, mit der christlichen Heilslehre kon-

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Arkadien kurrieren zu wollen. So konnte es über eineinhalb Jahrtausende ungefährdet neben dieser bestehen. Als günstiger Umstand kam hinzu, daß Vergil dem Mittelalter aufgrund der erwähnten Weissagung in der 4. Ekloge als Wegbereiter des Christentums galt. „Arkadien lag so fern, daß es mit dem Römischen Stuhl und dem Heiligen Römischen Reich so wenig in Konflikt zu kommen brauchte wie mit dem Reich des Augustus“, meinte der Altphilologe Bruno Snell. „Gefährlich wurde für Arkadien erst die Zeit, als die europäischen Völker ein Ungenügen an tradierten Gütern empfanden und sich auf ihren eigenen Geist besannen, - und das ist zugleich die Zeit, als man sich wieder auf das echte Griechenland besann.“ (2) Die Renaissance, auf die hier angespielt wird, verlieh dem Arkadien Vergils nicht nur neues Leben, sondern einen neuen Stellenwert. Es war jener neue Stellenwert, den die Kunst grundsätzlich erhielt. Die Kunst trat nun nämlich aus dem Schatten der Religion heraus. Sie hatte jetzt nicht mehr bloß dienende Aufgabe, indem sie Kirchenbauten schmückte oder religiöse Legenden illustrierte, sondern übernahm die Erzeugung illusionärer Scheinwelten ganz unmittelbar. Damit verließ auch das arkadische Motiv sein angestammtes Reservat der Lyrik, das es seit Vergil innehatte und in dem sich noch die „Pastourelles“ der provencalischen Troubadours bewegt hatten. Es entwickelte sich aus der neulateinischen Ekloge der Humanisten zum volkssprachlichen Schäferroman. Es eroberte sich als Schäferspiel und Schäferoper die Bühne, als arkadische Landschaft die Malerei, als Meierei oder Hameau die Architektur und in Gestalt des Englischen Gartens schließlich sogar die reale Landschaft. Das arkadische Motiv beflügelte die Naturbegeisterung ganz allgemein, die mit Shaftesbury und Rousseau ihre ersten Interpreten fand. Es war noch in der Figur des edlen Wilden enthalten, den die Literatur des 18. Jahrhunderts in den Wäldern Amerikas oder in der germanisch-keltischen Vergangenheit des eigenen Kontinents zu finden vermeinte. Ihren Höhepunkt erreichte die „Schäferei“ im Barock und Rokoko. Für die höfischen Kreise und das nacheifernde Bürgertum wurde arkadischer Mummenschanz zum Gesellschaftsspiel. Aus der höfischen Etikette schlüpfte man zur allzugern in das ungezwungene Gewand von Daphne und Chloe. Man zelebrierte und genoß den unschuldig-naiven Naturzustand im bewußten Kontrast zur Morbidität des ancien régime. Im „Schäferstündchen“ hat sich diese psychologische Ambivalenz aus Unschuld und Laszivität bis heute erhalten. In den fürstlichen Parks sorgen idyllische Meiereien für das erforderliche Ambiente. In die Malerei drang das arkadische Motiv, ausgehend von Venedig, erstmals zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein. Bis dahin war die Landschaft allenfalls Kulisse und Beiwerk. Bei Malern wie Giorgione, Tizian und Campagnola wurde sie zur Hauptsache des Bildes. Es handelte sich freilich um keine naturgetreue Abbildung, sondern um eine geistig überhöhte, eben arkadische Landschaft. Diese Landschaften waren so idealisiert wie ihre Staffa*ge, die wahlweise aus Schäfern, Schafen, Philosophen, Satyren und Nymphen bestand. Anfangs wurden oft noch biblische Motive in das Bild mit hinein genommen, die jedoch nur noch beigeordnete, verblassende Bedeutung hatten. So malte Carracci um 1604 eine

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Arkadien Landschaft mit See, Wasserfall, Burg, Schäfern und Fährmann, wobei im Vordergrund schon etwas aufgesetzt wirkend - die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten zu sehen war. Drei Jahrzehnte später imitierte Domenichino dieses Motiv bis in Einzelheiten, besetzte aber den Vordergrund mit einem malerisch gelagerten Pärchen, das die heilige Familie aus dem Bild verdrängte... Durch Claude Lorrain (1600 - 1682) gelangte die arkadische Landschaft zur klassischen Vollendung. Sie wurde zum perfekten Stimmungsgemälde, in dem sanftes Licht die friedvolle Szenerie beleuchtet. Oft waren auf den Bildern auch antike Ruinen zu sehen, die ikonographisch für Arkadien standen, psychologisch aber auch eine längst verflossene, heroischere Vergangenheit signalisierten und durch diesen Kontrast die friedvolle Pastorale noch akzentuierten. In der Literatur waren es zunächst Humanisten wie Petrarca und Boccaccio, die das Arkadien Vergils wieder aufgriffen. Ihre neulateinischen Eklogen setzten allerdings entsprechende Bildung voraus. Die Verbreitung beschränkte sich deshalb auf gelehrte Kreise und literarische Zirkel. Größere Wirksamkeit erlangten erst die volkssprachlichen Schäferdichtungen wie Sannazaros „Arcadia“, die in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts in italienischer Sprache entstand und 1504 gedruckt wurde. Die „Arcadia“ bestand aus zwölf Eklogen herkömmlichen Inhalts: Liebesklagen in monologischer und dialogischer Form, Lobgesängen auf eine Schäferin, Preis eines Verstorbenen, einer schöneren Vergangenheit oder einer verlorenen Heimat. Dabei wurden die einzelnen Eklogen bereits durch eine Rahmenerzählung verbunden, die den Übergang von der Lyrik zur epischen Form des Schäferromans vorbereitete. Parallel zum Schäferroman entstand, vor allem in der Literatur Spaniens, Frankreichs und Englands, die Gestalt des „irrenden Ritters“ als wehmütige Beschwörung vergangener Zeiten und Tugenden. Der Schäferroman verband sich mit dieser nostalgischen Beschwörung des Rittertums. Montemayors Schäferroman „Diana“, der um das Jahr 1558 gedruckt wurde und als eigentliche Begründerin des Genres gilt, sollte ursprünglich ein Ritterroman werden. In Sidneys Roman „Arcadia“, der 1590 erschien, verkleidet sich ein Ritter als Schäfer, um seiner Geliebten unerkannt nahe sein zu können. Es hat den Anschein, als habe sich die geistig-moralische Krise des römischen Reiches, der Vergils Eklogen ihre Entstehung verdankten, in der neuen Schäferei wiederholt. Die literarischen Schäfer und Ritter am Ende der Renaissance kündeten von der Auflösung des anfänglichen Selbstbewußtseins in Zweifeln, Ängsten und Wunschträumen von einer besseren Welt. Sie waren ein Bestandteil des manieristischen Lebensgefühls, das sich freilich nicht im Eskapismus erschöpfte, sondern bereits den barocken Wirklichkeitssinn vorbereitete. Sie waren deshalb zugleich Zielscheibe des Spotts. 1653 erschien in Frankreich die Komödie „Le berger extravagant“ von Thomas Corneille, die Andreas Gryphius zehn Jahre später als „Der Schwermende Schäffer“ ins Deutsche übersetzte: Der Titelheld der Komödie, Lysis, war eigentlich für die höhere Beamtenlaufbahn bestimmt, ehe er sich durch die Lektüre von Ritter- und Schäferromanen in eine poetische Traumwelt hineinsteigerte. Ein Schäferspiel gibt ihm den Rest, und er beschließt, selber Schäfer zu werden. Er treibt also seine Schafe unter süßlichen Lyrismen aufs Feld, kleidet sich un-

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Arkadien möglich, liegt stets auf der Erde, wimmert die verehrte Schäferin um Gegenliebe an und kann an keinem Wald vorbeigehen, ohne das Echo zu versuchen. Am Ende fällt er in einen hohlen Baum, was er zum Anlaß nimmt, um sein Leben, wie Daphne, als Baumgottheit zu beschließen. (3) Ähnliche Verspottung erfuhr um diese Zeit der Ritter-Kult. In Spanien war die Kluft zwischen dem massenhaft grassierenden Ritter-Ideal des „Hidalgos“ und der gesellschaftlichen Realität besonders groß. Sie begründete den sprichwörtlichen, antiquierten Stolz des Spaniers. In seinem „Don Quijote“ kontrastierte Cervantes Schein und Sein dieses Ritter-Ideals in satirisches Weise.

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"Et in arcadia ego"

"Et in arcadia ego" Die elegische Wandlung des arkadischen Motivs und das Ende der Schäferei Die Verspottung der Ritter- und Schäferromane zeugte davon, daß sich das Genre in einer Krise befand. Arkadien überlebte jedoch den Spott. Die Glorifizierung des Mittelalters hat später sogar noch größere Triumphe gefeiert. Der Traum verlor nur seine ursprüngliche Naivität. Er wurde elegisch und reflexiv. Der fortdauernden Sehnsucht beigemengt war fortan ein Hauch manieristischer Gebrochenheit. „Et in arcadia ego“ schrieb zu Anfang des 17. Jahrhunderts der italienische Maler Giovanni Francesco Guercino unter einen am Boden liegenden Totenschädel, den zwei junge Hirten ergriffen betrachten. (1) Die lateinische Inschrift will sagen, daß der Tod auch um Arkadien keinen Bogen macht. Sie gemahnt die beiden Hirtenknaben an die eigene Vergänglichkeit. Insofern handelt es sich um das vertraute „memento mori“. Durch den Bezug auf Arkadien anstelle des realen Lebens erhält dieses Gedenken der Vergänglichkeit alles Irdischen jedoch eine neue Bedeutung: Es symbolisiert den Katzenjammer des manieristischen Lebensgefühls nach dem Rausch der Renaissance. Die Sehnsucht nach Arkadien trägt hier bereits deutlich gebrochene Züge. Jenes Bewußtsein, das sich mit der Erschaffung Arkadiens von der unbefriedigenden Gegenwart distanzierte, unternimmt nunmehr einen weiteren reflexiven Schritt, indem es zu seinem eigenen Geschöpf auf Distanz geht. Einige Jahrzehnte später findet sich dieselbe Inschrift auf zwei Gemälden des französischen Malers Poussin. Auf dem ersten Bild, das um 1630 entstanden sein dürfte, sind drei Hirten und eine Schäferin unerwartet auf ein Grab gestoßen: Sichtlich aufgewühlt und bestürzt studieren sie die Inschrift des steinernen Sarkophags. Fast dieselbe Szene zeigt das zweite Bild, das Poussin etwa 15 Jahre später malte. Die Hirten und ihre Begleiterin wirken hier aber keineswegs aufgewühlt und bestürzt, sondern elegisch und kontemplativ. Die Szene ist von einer fast heiteren Ruhe. Aus dem Sarkophag ist ein Grabmal geworden, und der Totenkopf, der in der ersten Fassung auf dem Sargdeckel zu sehen war, ist gänzlich aus dem Bild verschwunden. Das „memento mori“ hat sich in eine sanfte Elegie verwandelt. Die zweite Fassung signalisiert den endgültigen Triumph des barocken Lebensgefühls. Weitere hundert Jahre später erkor sich dann die Epoche der Empfindsamkeit das Bild von Poussin zu einem ihrer Lieblingsmotive. Es wurde zwischen 1765 und 1780 sehr oft in Stichen verbreitet. Diderot empfand es als „erhaben und zugleich ergreifend“, wie Poussin den Blick des Betrachters von der heiteren ländlichen Szene auf das Grabmal lenke. (2)

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"Et in arcadia ego" Mit der Wandlung des Motivs ging eine Neuinterpretation der Inschrift einher: „Et in arcadia ego“ wurde nun nicht mehr auf den Tod, sondern auf dem mutmaßlichen Urheber der Inschrift bezogen. An die Stelle der korrekten Übersetzung „Selbst in Arkadien gibt es mich“ (nämlich den Tod) trat die falsche Deutung „Auch ich war in Arkadien“. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky hat diesen Interpretationswandel überzeugend dargelegt. Wie er feststellte, wird die bis heute verbreitete Übersetzung „Auch ich war in Arkadien“ dem Originaltext bzw. der lateinischen Grammatik nicht gerecht. Sie sei vielmehr erst durch Poussins zweites Bild nahegelegt worden. Ihren Urhebern lasse sich deshalb immerhin zugute halten, daß sie „zwar der lateinischen Grammatik Gewalt antaten, doch der neuen Bedeutung von Poussins Komposition Gerechtigkeit widerfahren ließen“. (3) In der falschen Interpretation wurde „et in arcadia ego“ zum geflügelten Wort. Die neue, elegische Komponente, die durch Poussins Bild mitbegründet wurde, klingt zum Beispiel deutlich bei Schiller an, wenn er das Gedicht „Resignation“ (1786) mit den Worten beginnen läßt: „Auch ich war in Arkadien geboren.“ Eine eher utopische Interpretation findet sich zu selben Zeit (1785) bei Herder: „Auch ich war in Arkadien ist die Grabschrift aller Lebendigen in der sich immer verwandelnden, wiedergebärenden Schöpfung.“ In Deutschland hat sich die von Italien ausgehende Schäferei erst spät und nur in bescheidenem Maße verbreitet. Das Haupthindernis dürfte die Reformation gewesen sein, die das Erbe des alten Glaubens beanspruchte und Ersatzphantasien aller Art abhold war. Ihrem Geist der Verinnerlichung war die bild- und leibhafte Ausmalung Arkadiens fremd. Wo es ihr jedoch gelang, das arkadische Motiv in seiner elegisch gewandelten Form genügend zu verinnerlichen, gestaltete sie es mit visionärer, die Gegenwart weit überdauernder Kraft. Davon zeugen etwa, abseits aller vordergründigen Schäferei, die Gedichte des Andreas Gryphius (1616-1664) mit ihrer tragisch grundierten Sehnsucht nach einer glücklicheren, friedvollen Welt. Unverkennbar arkadische Landschaften beschwören auch die Lieder des protestantischen Kirchenlieddichters Paul Gerhardt („Geh aus mein Herz und suche Freud...“), die teilweise zu Volksliedern wurden und bis heute lebendig geblieben sind. Gleiches gilt für spätere Vertreter einer pietistisch-gemütvollen Dichtung wie Matthias Claudius („Der Mond ist aufgegangen...“). Die ohnehin schwach entwickelte Schäferei der deutschen Literatur wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Opfer des sich anbahnenden Sturm und Drang. Den Wendepunkt markierte die Kritik, die Herder in seinen 1767 erschienenen Fragmenten „Über die neuere deutsche Literatur“ an dem Schweizer Dichter Geßner übte, der damals der bekannteste Repräsentant der deutschen Schäferdichtung war und vielfach als der bedeutendste Vertreter der deutschen Literatur überhaupt galt: „Ein Schäfer mit höchst verschönerten Empfindungen hört auf, Schäfer zu sein, er wird ein poetischer Gott: das ist nicht mehr ein Land der Erde, sondern ein Elysium der Götter: er handelt nicht mehr, sondern beschäftigt sich höchstens, um seine Idealgröße zu zei-

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"Et in arcadia ego" gen: er wird aus einem Menschen ein Engel: seine Zeit ein gewisses Figment der goldenen Zeit.“ Herder vermißte am Schäferideal das aktive, tätige, auf die Veränderung der Gegenwart bezogene Moment: „Statt zu handeln, beschäftigen sie sich, singen und küssen; trinken und pflanzen Gärten.“ Der Stammvater der Schäferdichtung, Theokrit, sei auch viel politischer und gegenwartsnaher gewesen als sein Schweizer Nachfahre Geßner, glaubte Herder zu wissen. „Das ganze goldene Zeitalter, in welches die Schweizer die alten Schäfer setzen, ist also eine schöne Grille.“ (4) Herder hatte damit sicher kein Plädoyer für eine illusionslose Sichtweise im Sinn. Er wollte im Grunde weder Arkadien noch das goldene Zeitalter ächten. Die Illusion war ihm lediglich zu schal. Er wollte sie mit anderen Figuren bevölkern; mit Gestalten, die eben mehr als „eine schöne Grille“ sind, mehr als ein unverbindlicher Traum vom schöneren Leben. Diese Gestalten glaubte er im realen Fundus der Geschichte zu finden. Herder war überzeugt davon, „daß wir unsere Literatur nicht edler und ursprünglicher bereichern, als wenn wir die Gedankenschätze eines Volkes erwerben und daß ein Ossian gegen Homer, und ein Skalde gegen Pindar gestellt, keine unebne Figur machen“. (5) Daß auch der Skalde Ossian nur eine schöne Grille war - im Unterschied zur holden Illusion Arkadiens sogar ein handfester Betrug, die größte Fälschung der Literaturgeschichte - ahnte Herder damals noch nicht. Auch anderswo bahnte sich um diese Zeit der Niedergang Arkadiens an. Schon über den Landschaften Bouchers, Fragonards oder Watteaus waltete etwas Melancholisch-Düsteres. Der Kontrast zur Idylle, den bei Lorrain die antike Ruine setzt, wurde hier durch die wildbewegte, eher dräuende als anmutige Landschaft des Hintergrunds besorgt. Das Heroische wurde aus der zeitlichen in die räumliche Dimension verlagert, in die Gegenwart mit hinein genommen. Es wurde so mit dem Arkadischen konfrontiert, um es schließlich gänzlich zu überwältigen. Voltaire schrieb um diese Zeit seinen „Candide“. Der Held des satirischen Werks ist von einer naturwüchsigen Unschuld und Naivität. In diesem geistigen Schäferkostüm schickt in Voltaire auf die Reise durch die Realität - angeblich eine harmonisch prästabilisierte Welt, in der alles seinen hinreichenden Grund und seine natürliche Zweckbestimmung hat. Die Reise durch dieses Arkadien, wie es in der zeitgenössischen Philosophie von Pope bis Leibniz anklingt, wird für Candide zur Höllenfahrt. Am Ende ziehen sich Candide und seine Gefährten mit ihren erlittenen Blessuren in eine kleine Meierei zurück - Karikatur Arkadiens - und schwören allem Räsonieren ab, um nur noch ihren Garten zu bestellen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verschwand das arkadische Motiv aus allen Bereichen der Kunst. Die Schäferspiele, die Marie Antoinette im Park von Versailles veranstaltete, waren ein letzter höfischer Selbstbetrug. Der dritte Stand war nicht mehr bereit, sich mit Träumen von Arkadien abspeisen zu lassen. Seine Träume waren heroischer, handlungsbereiter, gegenwartsnäher. Ihren Interpreten fanden diese Träume in Jacques Louis Da-

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"Et in arcadia ego" vid, der 1784 den „Schwur der Horatier“ malte: Eine heroische Szene vor intakten antiken Rundbögen. Die Landschaft ist vollkommen weggelassen. Nichts Arkadisches hatten auch „Paris und Helena“,die David 1788 malte: Das Liebespaar posiert in einem antiken Vestibül und wirkt so kühl wie seine marmorne Umgebung. Nur noch die Lyra, die Paris in der Hand hält, erinnert an seine bukolische Vergangenheit als Hirte, auf die Claude Lorrain und andere Maler in dem beliebten Standard-Motiv „Das Urteil des Paris“ abgehoben haben. Dafür trägt der Paris auf Davids Bild eine phrygische Mütze - jenes Requisit, das als Jakobinermütze zum Symbol der französischen Revolution werden sollte.

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Ruinen-Symbolik

Ruinen-Symbolik Die Ambivalenz von Nostalgie und Utopie im arkadischen Landschaftsbild Ein wichtiges Symbol der elegischen, reflexiv-gebrochenen Sehnsucht nach Arkadien wurde die Ruine. Sie übersetzt die nostalgische Komponente des Traums von Arkadien, die sich bereits in der engen Verwandtschaft von Ritter- und Schäferroman zeigt, in den zweidimensionalen Raum des Landschaftsgemäldes. Später wird man sie sogar im dreidimensionalen Raum des Parks finden. Das arkadische Motiv, das ursprünglich rein poetischliterarisch war, wird so immer sinnlich wahrnehmbarer. Sein Medium ist zunächst das Papier, dann die Leinwand und noch später der Garten. Auf jeder dieser Stufen verdinglicht sich das arkadische Motiv ein Stück weiter. Es nimmt immer mehr Sinne gefangen, um schließlich das dreidimensionale, begehbare arkadische Landschaftsbild in Form des Englischen Gartens hervorzubringen. Ruinen finden sich auf zahllosen Bilden des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie verleihen den Ideal-Landschaften und bukolischen Szenen eine verhaltene Würde und Melancholie. Ihr psychologischer Stimmungsgehalt wiederholt zum Teil das Vanitas-Motiv, das sich schon in der Malerei des ausgehenden Mittelalters großer Beliebtheit erfreute. Im Unterschied zu Totenkopf und Sanduhr, die in der gotischen und barocken Malerei die Vergänglichkeit allen individuellen Seins allegorisieren, enthält die Ruine jedoch deutlich gesellschaftlichhistorische Bezüge. Sie ist ein Zeugnis vergangener Pracht und Größe, das auch der Gegenwart ihre Vergänglichkeit vorhält. Die Ruinen-Bilder des 18. Jahrhunderts weisen sowohl nostalgische wie utopische Züge auf. Sie sind psychologische Vexierbilder, die den Betrachter, je nachdem, in das Arkadien einer fernen antiken Vergangenheit oder einer glücklicheren Zukunft versetzen. „Ruinen erwecken in mir erhabene Ideen“, schrieb Diderot angesichts von Ruinen-Bildern, die im „Salon“ des Jahres 1767 im Louvre zu sehen waren. „Alles wird zunichte, alles verfällt, alles vergeht. Nur die Welt bleibt bestehen. Nur die Zeit dauert fort. Wie alt ist doch unsere Welt! Ich wandle zwischen zwei Ewigkeiten. Wohin ich auch blicke, überall weisen mich die Gegenstände, die mich umgeben, auf das Ende aller Dinge hin, und so finde ich mich mit dem Ende ab, das mich erwartet.“ (1) Für Ernst Bloch reflektierten diese Ruinen, wie die ganze manieristische Endphase des Barock, „das Zwielicht, das aus dem Ineinander von aufsteigendem Bürgertum und tonangebendem, prekär-mächtigem Neufeudalismus entstand; wobei freilich die Vergänglichkeit, als eine im Sturz aufgehaltene, durchaus noch Form bildete, also keineswegs in Nihilismus fiel. Die Ruine mußte so ziemlich genau die Mitte halten zwischen dem Zerfall und einer hindurchscheinenden, sozusagen erst integren Linie; diese schwebende, in der Schwebung gleichsam angehaltene Mitte machte sie, im barocken Sinn, malerisch.“ (2)

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Ruinen-Symbolik Diderot hat den zwiespältigen Charakter der Ruinen-Landschaften instinktiv erfaßt, als er darüber sinnierte, weshalb fast alle Maler um die verfallenen Bauwerke einen heftigen Wind wehen lassen. Ebenso fiel ihm auf, daß Wanderer und sonstige Personen an den Ruinen vorbeigehen, anstatt dort zu lagern und zu rasten. Ganz anders sei es, wenn der Maler die Ruine durch ein Grab ersetze: „Jetzt hat der ermüdete Wanderer seine Bürde vor seine Füße gelegt; er und sein Hund sitzen auf den Stufen des Grabes und ruhen sich aus (...) Das alles ist der Fall, weil Ruinen ein Ort der Gefahr, Gräber dagegen eine Zufluchtstätte sind.“ (3) Im Unterschied zum Grab, dem Ort individueller Vergänglichkeit, war die Ruine also ein „Ort der Gefahr“. Die Vergangenheit, welche die Ruine repräsentierte, konnte jederzeit in die Gegenwart hineinwirken. Schon ein Windstoß konnte genügen, um weitere Bruchstücke aus ihr herauszulösen oer sie ganz zum Einsturz zu bringen. Die barocke Ruine stand so für Nostalgie und Utopie zugleich. Sie war Ausdruck einer diffusen Stimmung. Sie induzierte beim Betrachter die Sehnsucht nach einem Arkadien, das sowohl in ferner Vergangenheit wie in ferner Zukunft angesiedelt sein konnte. Das ursprüngliche, religiöse Vanitas-Motiv wurde in die arkadische Landschaft überführt. Es symbolisierte nun nicht mehr die Nichtigkeit alles Irdischen vor dem Tod und dem Reich Gottes, sondern die Unvollkommenheit der Gegenwart zwischen nostalgisch verklärter Vergangenheit und utopisch überhöhter Zukunft. Die „Rocaille“, wichtigstes Stilelement und Namensgeberin des Rokoko, verhalf diesem Lebensgefühl zu ornamentalem Ausdruck. Sie war im Grunde nichts anderes als eine stilisierte Ruine. Ihr gebrochener Schwung wiederholte und widerspiegelte die Gebrochenheit zwischen Nostalgie und Utopie. Sie war Ausdruck einer Welt, „in der das Unvollendete Anlaß der Heiterkeit, das Verfallene Erinnerung an Arkadien ist“. (4) Seinen markantesten Ausdruck fand das Ruinen-Motiv in den Bildern von Hubert Robert (1733 - 1808). Die meist großformatigen Gemälde mit Ruinen antiker Bauten aus Rom und Südfrankreich trugen ihm den Beinamen „Robert des Ruines“ ein. Diese Ruinen waren oft von üppigem Grün überwuchert, das ihnen ein manieristisch-bewegtes, fast lebendiges Aussehen verlieh. Die Ruine dominierte jedoch derart, daß für die Landschaft kein Raum mehr blieb. Für arkadische Stimmungen, gar utopisches Sehnen war in dieser Umgebung buchstäblich kein Platz. Es fehlte die Weite und der Horizont der Landschaft. Selbst Nostalgie wollte angesichts von Roberts Ruinen nicht so recht aufkommen. „Sie besitzen wohl die Technik, aber Ihnen fehlt das Ideelle“, warf Diderot dem Maler vor. „Empfinden Sie denn nicht, daß auf dem Bild zuviel Figuren sind, daß man davon drei Viertel ausradieren müßte -Man darf nur diejenigen beibehalten, die die Einsamkeit und die Stille unterstreichen.“ (5)

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Symbol und Sentiment

Symbol und Sentiment Weshalb das arkadische Landschaftsbild mit dem Barockgarten koexistieren konnte Die arkadischen Landschaften der Malerei entsprangen der Phantasie. Die reale Landschaft diente ihnen nur als Anregung. So ließ sich Lorrain von der römischen Campagna und Ruisdael von der niederländischen Landschaft inspirieren. Es ging ihnen aber letztendlich nicht um eine realistische Wiedergabe. Ihre Bilder waren Ideal-Landschaften, die ein geistiges bzw. ästhetisches Ideal auf der Leinwand darstellten. Anfangs wurde dieses Ideal noch in symbolischer Weise durch Schäfer, Satyren, Philosophen oder Ruinen ausgedrückt, die als Ortsbestimmung für Arkadien dienten. Diese Symbole appellierten weniger ans Gemüt als an die kognitiven Fähigkeiten des Betrachters. Er mußte die Symbolik des Bildes entschlüsseln und die dargestellte Szene gleichsam als gemalte Schäferdichtung verstehen. Bald aber verselbständigte sich das zweidimensionale Arkadien auf der Leinwand von seinen literarischen Wurzeln. Seine Symbolik füllte sich mit einem ihr eigenen Sentiment. Es entstand ein neues Genre der Malerei, das keiner kognitiven Übersetzung mehr bedurfte, sondern sich selbst erklärte und ganz unmittelbar ans Sentiment appellierte. Am Ende bedurfte es weder der Schäfer noch der Ruinen, um eine sanft gewellte Landschaft, wie Lorrain sie malte, auf gefühlsmäßige Weise mit dem glückseligen Arkadien zu verbinden. So wie die Schäferdichtung die arkadische Malerei vorbereitete und überhaupt erst ermöglichte, so war die Entwicklung des Landschaftsbildes Voraussetzung für die nächste Stufe, auf der das zweidimensionale Bild in die dritte Dimension des Landschaftsgartens übertragen wurde. Das arkadische Motiv durchläuft auf allen drei Ebenen - Literatur, Malerei, Gärtnerei - eine zwar zusammenhängende, aber zeitlich versetzte Entwicklung. Dies erklärt, weshalb zunächst niemand daran dachte, solche arkadischen Landschaften, wie sie die Gemälde zeigten, auch in der Realität anzulegen. Die künstlich gestalteten Landschaften sahen bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz anders aus. In den fürstlichen Gärten regierten Zirkel und Lineal. Die Natur wurde als beherrschte, der Vernunft unterworfene Natur genossen. Entsprechend galt es als Gipfel gärtnerischer Leistung, die Bäume, Sträucher und Blumen in geometrische Formen zu zwingen. Die natürlichen Unebenheiten des Geländes wurden nach Möglichkeit beseitigt. Das Ideal war ein mit Richtschnur und Schere getrimmter Park im „französischen“ Stil.

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Symbol und Sentiment Die wichtigste der Symmetrie-Achsen, um die sich die geometrischen Muster spiegelten, ging dabei vom Schloß aus. Die Gärten der Renaissance, des Barock und des Rokoko waren so zugleich ein Symbol des Absolutismus. Ihre Bäume, Sträucher und Blumen hatten kein Recht auf individuelle Entfaltung. Sie hatten vielmehr ihren festen Platz in einer genauso vernünftigen wie rigiden Ordnung, in der das Immergrün der BuchsbaumReihen der zeitlosen Pracht der Allonge-Perücken entsprach. Ein solcher Garten versinnbildlichte die weltliche Ordnung in ähnlicher Weise wie die Pracht der Kirchen das himmlische Reich. Er war dabei aber weniger Ausdruck des politischen Absolutismus als eines Bewußtseins, das sich in jeder Hinsicht im Absoluten aufgehoben wußte. Dieses Absolute mußte nicht unbedingt in der traditionellen Form des christlichen Schöpfergottes gedacht werden. Es konnte ebenso die philosophische Gestalt eines materialistischen Deismus, von Spinozas „Substanz“ oder Hegels absolutem Geist annehmen. So erklärt es sich auch, daß der geometrische Garten, der oft sehr vordergründig als Sinnbild des fürstlichen Absolutismus gesehen wird, die bürgerliche Revolution in den Niederlanden unbeschadet überdauern konnte. Die Geometrie des Barockgartens harmonierte in den Niederlanden mit dem bürgerlichen Bewußtsein ebenso wie die erklärtermaßen „geometrische“ Form, die Spinoza seiner „Ethik“ angedeihen ließ. Der sentimentale Garten war der Renaissance und dem Barock so fremd wie das dazugehörige Sentiment. Die Gärten dieser Zeit erfreuten durch ihre Regelmäßigkeit, in der sich die Regelmäßigkeit des Kosmos wiederholte. Sie steckten voller Symbolik, die entschlüsselt und verstanden werden mußte. Eines der besterhaltenen Beispiele bietet das Figurenprogramm im Park von Schloß Weikersheim, der zwischen 1707 und 1725 angelegt wurde: Eröffnet wurde dieses Figurenprogramm, indem man vom Schloß her zwischen den Statuen des Herkules und des Zeus als Symbolgestalten für Stärke und Majestät des Herrschers hindurchging. Es folgten sechszehn groteske Zwerggestalten, die im Wechsel mit Vasen die Balustraden am Schloßgraben schmückten und - im Kontrast zur sakrosankten Würde des Herrschers - den Hofstaat karikierten. Der Weg führte weiter in ein großes Karree, das die Figuren der vier Elemente, der vier Jahreszeiten, der vier Winde, zahlreiche antike Gottheiten sowie die Symbole des Reichtums und der Armut enthielt. Am Ende des Gartens, in der offenen Exedra der symmetrisch angelegten Orangerie, stand das Reiterstandbild des Herrschers, flankiert von Pax und Minerva als Symbolen für Frieden und Krieg sowie Allegorien der vier Weltreiche. In der Mitte des Gartens, wo Zentral- und Querachse ein Rondell bildeten, war die Figur des Herrschers ein weiteres Mal in einem Herkulesbrunnen verherrlicht. Die ganze Anlage wurde streng symmetrisch durch eine Zentralachse und mehrere Querachsen gegliedert. Sie stand für nichts weniger als die Gesamtkeit der Welt. (1) Noch in den Gärten des Spätbarock und Rokoko war das Verständnis der Ikonographie eine wesentliche Voraussetzung für das ästhetische Moment. Zum Beispiel sollte der Schwetzinger Schloßgarten, mit dessen Anlage 1753 begonnen wurde, die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters symbolisieren. Den Auftakt dazu bildeten die Urnen der vier Weltalter auf der Terrasse vor dem Schloß. Ein Arion-Brunnen im Mittelpunkt des großen Zirkels verherrlichte mit der wunderbaren Wirkung von Poesie und Musik zugleich die musischen Neigungen des Herrschers. Hinter dem Zirkel eröffneten zwei wasserspeiende Hir-

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Symbol und Sentiment sche das Reich Dianas, der Göttin der Jagd. Am Ende des Gartens, vor einem großen rechteckigen Wasserbecken, symbolisierten die Statuen des Rheins und der Donau die Flüsse, die das Reich des Kurfürsten umspülten. (2) Die Gesamtanlage verhieß so die Wiederkunft des goldenen Zeitalters in der Pfalz. Die dazugehörige Ikonographie wurde auch nach Verlassen der ursprünglich rein symmetrisch-geometrischen Konzeption beibehalten und in die mehr verspielt-allegorischen Formen des Rokoko umgesetzt. Zum Beispiel war eine türkische Moschee, die Anfang der siebziger Jahre entstand, nicht allein auf exotisch-pittoreske Wirkung angelegt. Sie sollte zugleich ein Symbol der religiösen Toleranz sein. Dieser Symbolwert des Gebäudes und damit das ästhetische Gefühl des Erhabenen und Wahren erschloß sich dem Betrachter jedoch erst, wenn er die eigenartige Architektur als eine Mischung aus der katholischen Karlskirche in Wien, der anglikanischen St. Pauls-Kathedrale in London und mohammedanischem Gotteshaus erkannte. In der Sprache der Pawlowschen Psychologie ausgedrückt: Der Barockgarten appellierte eher an das „zweite Signalsystem“ der Sprache und des Denkens als an das „erste Signalsystem“ des visuellen Eindrucks und des unmittelbar intendierten Gefühls. Er verband beide Signalsysteme, wies aber die Schlüsselreize dem Verstand zu. Auch die arkadischen Landschaften Lorrains und Poussins wurden auf diese Weise rezipiert. Sie waren aus barocker Sicht Symbole des goldenen Zeitalters. Es war deshalb für den Zeitgenossen kein Problem, das Wohlgefallen an einem Bild Lorrains mit dem Wohlgefallen an einem Park im symmetrisch-geometrischen Stil zu vereinbaren. Ein Bedürfnis, sich in Landschaften nach Art Lorrains zu ergehen, konnte erst entstehen, nachdem sich das arkadische Landschaftsbild zum eigenständigen Genre entwickelt hatte. Rekapitulieren wir kurz den Werdegang des arkadischen Motivs vom Papier zur Leinwand: Die erste Vorarbeit leistet Dante (1265 - 1321), der sich in seiner „Göttlichen Komödie“ von Vergil, dem Erfinder Arkadiens, den Weg durch die Hölle zum Paradies zeigen läßt. Noch in den humanistischen Eklogen Petrarcas (1304 - 1374) und Boccaccios (1313 -1375) ist das arkadische Motiv rein gedanklicher Natur. Erst mit der Schäferdichtung Sannazaros (1456 - 1530) oder Montemayors (1520 - 1561) dringt es allmählich in die Malerei eines Giorgione (1477 -1510), Tizian (1476 - 1576) oder Campagnola (1500 1564) ein. In den Werken A. Caraccis (1560 - 1609) oder Domenichinos (1581 - 1641) befreit es sich weiter von den symbolisierenden Eierschalen, um schließlich in den Gemälden Claude Lorrains (1600 - 1682) und Poussins (1615 - 1675) seine sinnlich-visuelle Vollendung zu erreichen. Im Rahmen der Malerei sind damit die Möglichkeiten des arkadischen Motivs erschöpft. Das zweidimensionale Tafelbild läßt keine weitere Versinnlichung zu. Der nächste Schritt muß außerhalb der Malerei erfolgen. Die arkadischen Gefilde müssen in den dreidimensionalen Raum verlagert werden. Dieser Schritt ist grundsätzlich in der gesamten europäischen Kultur der Neuzeit angelegt. Er wird dann letztlich in England mit voller Konsequenz durchgeführt. Die ersten, tastenden Versuche finden jedoch bereits in Venedig statt, wo auch die arkadische Landschaftsmalerei ihre erste Blüte erlebte.

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Symbol und Sentiment Schon 1370 erwirbt Petrarca ein kleines Anwesen in den euganeischen Hügeln bei Padua, um seinen Lebensabend in ländlicher Beschaulichkeit zu verbringen. Der Dichter wird damit zum Pionier eines massenhaften Trends. Er kann als Vorläufer der venezianischen Großbürger gelten, die ab dem 15. Jahrhundert entlang der Brenta und an anderen Orten des venezianischen Festlandes Tausende von Landsitzen errichten, die ihnen als Sommerfrische, Stätten des Amüsem*nts und zusätzlich landwirtschaftliche Einkommensquelle dienen. Diese venezianische Villegiatura dauert bis ins 18. Jahrhundert. Sie ist ein einzigartiges gesellschaftliches Phänomen, das nirgendwo in Europa seinesgleichen findet und sicher von den topographischen Voraussetzungen (Insellage der Lagunenstadt, Bequemlichkeit der Wasserverbindungen) abhängig war. Genauso wichtig dürfte jedoch ein neues, ideologisches Verhältnis zur Natur gewesen sein, wie es Giorgione in seinem um 1505 entstandenen Gemälde La Tempesta zum Ausdruck bringt: Es zeigt Adam und Eva in der Geborgenheit einer arkadischen Landschaft, während sich im Hintergrund über einer Stadt - dem Ort des Schachers, des Handelns, des Lasters, der Korruption, des nüchternen Kalküls und der eiskalten venezianischen Staatsräson - ein Unwetter mit Blitz und Donner zu entladen beginnt. Giorgiones Bild entstand zu einer Zeit, als der Seeweg nach Indien bereits entdeckt war und Venedig seine einzigartige Stellung im Fernhandel langsam aber sicher zu verlieren begann. Für Venedig begann nun die Phase der Dekadenz. Seine führende Rolle im Fernhandel verlor es sukzessive an Portugal, Spanien, die Niederlande und England. Die verstärkte Hinwendung zum Festland, zum ländlichen Leben und zur Landwirtschaft ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Mit der politisch-ökonomischen Motivation verbunden war eine Fluchtbewegung ins Private. Ein noch immer immenser Reichtum ermöglichte der venezianischen Bourgeoisie jene lange glanzvolle Agonie, welche auch die „villegiatura“ bestimmte. Die aristokratische Republik von Venedig war bis ins 16. Jahrhundert führend in der bürgerlich-kapitalistischen Umgestaltung Europas. Sie erstarrte dann jedoch, wurde immer mehr zum Bestandteil des ancien régime, bis sie 1797 von Napoleons Truppen kampflos eingenommen wurde. Hier liegt wohl der Grund, weshalb Venedig nicht fähig war, jenen Gegensatz, der in Giorgiones Bild aufscheint, weiter zu entwickeln und vom zweidimensionalen Gemälde in die dritte Dimension der Landschaft zu gelangen. Die Gärten, welche die venezianischen Villen auf dem Festland umgaben, folgten bis ins 18. Jahrhundert duchaus geometrischen Mustern. Selbst die geheime Lust am Unregelmäßigen wurde in die rechtwinklige Strenge des Labyrinths aus Buchsbaumhecken gezwängt, das in seiner Mitte von einem erhöhten Aussichtspunkt zu überschauen war und so - ungeachtet aller Möglichkeiten der invididuellen Verirrung - den Triumph des übergeordneten Gesamtkonzepts symbolisierte. Und doch verraten die venezianischen Villen in Ansätzen eine neue, bürgerliche Geistigkeit. So verläuft im Park der Villa Barbarigo in den euganeischen Hügeln, der bis heute weitgehend original erhalten ist, die Hauptachse des Gartens quer zu der 1669 errichteten Villa, die sich am Ende einer untergeordneten Achse erhebt. Noch eindrucksvoller manifestiert sich das Neue in den Bauten Palladios, der die dreiteilige Fassade des vene-

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Symbol und Sentiment zianisch-byzantinischen Palastes aus ihrer Flächigkeit erlöste: Die offene Arkadenreihe wurde zum vorspringenden antiken Portikus; der ganze Baukörper wurde, bis in die Proportionen der Räume hinein, zum Kunstwerk. Palladio war jedoch - im Unterschied zu seiner späteren Wertschätzung und Bedeutung für den anglo-amerikanischen Baustil nur einer unter vielen venezianischen Architekten. Seine Bauten wie die „Villa Rotonda“ waren eine kühne Antizipation des bürgerlichen Geistes und selbst für die venezianische Architektur des 16. Jahrhunderts nicht repräsentativ. In Venedig selbst hat Palladio nur Sakralbauten errichtet, und von den rund 3500 Villen des venezianischen Festlandes dürften gerade etwa zwanzig auf seine Pläne zurückgehen.

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"Paradise lost"

„Paradise lost“ Der Sensualismus als Wegbereiter des Landschaftsgartens Es blieb England vorbehalten, das arkadische Motiv aus der zweidimensionalen Fläche des Gemäldes in die dritte Dimension des Gartens überzuführen. Der Einfluß Venedigs und der „villegiatura“ war dabei beträchtlich. Vor allem entdeckte die englische Bourgeoisie in den Bauten Palladios jene diskrete Magie des Geometrischen, die erst im Kontrast zur Unregelmäßigkeit des umgebenden Parks ihre volle Wirkung entfaltet. Anders als das morbide Venedig befindet sich England im 17. Jahrhundert auf dem aufsteigenden Ast. Schon in den Rosenkriegen von 1455 bis 1485 hatte sich der alte Adel gegenseitig ausgerottet und der neuen, bürgerlich geprägten Gentry Platz gemacht. Die Versuche Karls I., das Rad der Geschichte zurückzudrehen, blieben erfolglos. Sie führten zum Bürgerkrieg von 1642 bis 1649, aus dem die Gentry mit dem Puritaner Cromwell als Sieger hervorging. Schon eineinhalb Jahrhunderte vor der französischen Revolution wurde in England der König hingerichtet und die Republik proklamiert. Mit der „Glorreichen Revolution“ von 1688 sicherte sich das englische Bürgertum endgültig die Teilhabe an der politischen Macht und einen Klassenkompromiß, der in der Folge immer mehr zugunsten der bürgerlichen Kräfte verschoben wurde. Besser gesagt: Die Kämpfe zwischen Whigs und Tories, Bürgertum und Adel, Kapital und Grundbesitz nahmen systemimmanenten Charakter an. Die Ablösung der alten feudalen Abhängigkeitsverhältnisse durch die neuen Ware-Geld-Beziehungen sorgte von selbst dafür, daß die Tories verbürgerlichten und die Whigs feudale Allüren annahmen. Vor diesem historischen Hintergrund entwickeln sich in Englands Kunst, Literatur und Philosophie frühzeitig die Züge eines Bewußtseins, das auf dem Kontinent in dieser Form unbekannt ist. Schon im „perpendicular style“ tritt ein protestantisch-nüchternes Element zutage, das der Spiritualität der Gotik buchstäblich die Spitze nimmt. Spätgotik und Renaissance erlebt England nur in den manierierten Formen des Tudorstils. Die Malerei, die auf dem Kontinent im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht, ist in England fast bedeutungslos. Noch geringer sind der Einfluß des Barock und des Rokoko. Das englische Bürgertum findet vielmehr seinen genuinen Stil und den stärksten künstlerischen Ausdruck der erreichten gesellschaftlich Emanzipation im Klassizismus; in der Aufnahme und Weiterentwicklung jener Formen, die Palladio einst aus dem Geist der italienischen Renaissance geschöpft hatte. In der englischen Literatur bezeugt Miltons Elegie vom „Paradise lost“ (1667) das neue Bewußtsein, das mit den neuen bürgerlich-kapitalistischen Handels- und Produktionsverhältnissen einhergeht. Miltons „Verlorenes Paradies“ ist nur der Form nach ein religiöses

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"Paradise lost" Poem. Psychologisch hat es mehr die Qualität Arkadiens und des Goldenen Zeitalters als des religiös verstandenen Paradieses. Es kann auch nicht mit dem Paradies in Dantes „Göttlicher Komödie“ gleichgesetzt werden. Bei Dante bleibt das Paradies als Teil des Universums dialektisch mit der Hölle und dem Berg der Läuterung verbunden. Bei Milton dagegen nimmt - wie Hegel später kritisiert - „der Konflikt und die Katastrophe des ‚verlorenen Paradieses‘ eine Wendung gegen den dramatischen Charakter hin“. Es seien hier „der Zwiespalt des Inhalts und der Reflexion des Dichters, aus welcher er die Begebenheiten und Zustände beschreibt, nicht zu verkennen“. Man finde hier ganz „die Gefühle, Betrachtungen einer modernen Phantasie und der moralischen Vorstellungen seiner Zeit“. (1) In der Philosophie finden diese „moderne Phantasie“ und „moralischen Vorstellungen“, die Milton in Verse kleidet, ihren Ausdruck und ihre Weiterentwicklung in den Schriften John Lockes (1632 - 1704). Bei Milton entsteht die Welt daraus, daß Gott seinen Willen aus einem Teil seiner selbst zurückzieht und diesen sich selbst überläßt. Locke präzisiert diesen Deismus dahingehend, daß die dingliche Umgebung des Primäre sei und sich die Seele erst unter dem prägenden Einfluß der Außenwelt mit Inhalt erfülle. Indem Locke die scholastische These von den angeborenen Ideen zurückweist, leugnet er aber zugleich eine unmittelbare göttliche Inspiration der Seele. Eine solche kann allenfalls auf dem Umweg über die göttlich intendierte Natur zustandekommen. Lockes Zögling Shaftesbury (1671 - 1713) geht noch einen Schritt weiter. Für ihn hat sich das Göttliche nicht aus der Natur zurückgezogen, sondern bleibt untrennbar mit der Natur verbunden. Das heißt aber, daß auch alle sittlichen Gebote und Wertvorstellungen, die ehemals mit der Autorität Gottes begründet wurden, in die Natur übergehen und dingliche Gestalt annehmen. Shaftesbury gelangt so zu einer Ästhetik, in der sich das Natürliche, Tugendhafte und Schöne gegenseitig bedingen und ergänzen. Er verwirft die egoistischen Konsequenzen aus Lockes Sensualismus und verwandelt diesen in einen „moralischen Sensualismus“. Im Grunde ist Shaftesburys Ästhetik, die oft als „neuplatonisch“ charakterisiert wird, eine Variante des Pantheismus. Der englische Pantheismus unterscheidet sich vom kontinentalen Pantheismus durch eine starke Neigung, die Widersprüche in Natur und Gesellschaft zu negieren bzw. zu harmonisieren. Der Grundwiderspruch zwischen Sein und Bewußtsein, der in Spinozas „Ethik“ (1677) zwischen dem „leidenden Geist“ und dem „handelnden Geist“ aufscheint, ist Shaftesbury und seinen Nachfolgern unbekannt. Ihr Pantheismus ist nicht zerrissen zwischen Sein und Bewußtsein, sondern betont gerade die Harmonie von Dinglichem und Geistigem. Selbst das unleugbare Übel erscheint in dieser Sichtweise noch als Ausdruck eines größeren Guten. Mit unübertroffener Deutlichkeit formulierte diese psychologische Konsequenz des englischen Pantheismus der Dichter Alexander Pope in seinem 1733 veröffentlichten „Essay on man“: (2) Alle Natur ist doch nur Kunst, die du nicht wahrnimmst, Ein jeder Zufall doch nur Richtung, die du nicht verfolgst; Ein jeder Zwieklang unerhörte Harmonie; Und alles kleine Übel nur ein großes Gutes.

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"Paradise lost" Und allem Stolz zum Trotz, zum Trotz auch irrender Vernunft, nur eine Wahrheit gilt: Was ist, hat seine Richtigkeit. Der Schlußsatz dieses Poems (im Original: „whatever is, is Right“) gelangte im 18. Jahrhundert zu großer Berühmtheit und hat heftigen Widerspruch ausgelöst. Oberflächlich erinnert er an die noch berühmtere Sentenz Hegels aus dem Jahr 1821: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Dem Satz von Pope fehlt jedoch die dialektische Doppelbödigkeit, mit der Hegel einerseits das Bestehende rechtfertigt und andererseits im Namen des Vernünftigen zum Untergang verurteilt. Pope unterstellt vielmehr, daß „alles kleine Übel nur ein großes Gutes“ sei. Eine so beschaffene Welt bedarf keiner Veränderung. Sie will lediglich anders gesehen werden. Sie will „alles kleine Übel“ - etwa die sozialen Widersprüche der neuen bürgerlichen Gesellschaft - als unvollkommene Erkenntnis einer umfassenden großen Harmonie relativieren. Sie wird so zu einer Apologie des Bestehenden. Eine solche Sichtweise entsprach viel zu sehr den gesellschaftlichen Verhältnissen Englands, um auf dem Kontinent, wo das Bürgertum die Macht des Feudalismus noch nicht gebrochen hatte, widerspruchslos hingenommen oder auch nur verstanden zu werden. Der „Candide“, in dem Voltaire den unerschütterlichen Glauben an „die beste aller möglichen Welten“ verspottet, nimmt deshalb die prästabilisierte Harmonie des Leibniz-Schülers Christian Wolff eher als Vorwand und willkommenden Anlaß, um letzten Endes Popes „Reim des Jahrhunderts“ zu treffen und ins Lächerliche zu ziehen: „Es ist bewiesen“, läßt Voltaire die Philosophen-Karikatur Pangloss zu Candide sagen, „daß die Dinge nicht anders beschaffen sein können. Sintemalen nämlich alles zu einem Zweck geschaffen ist, dient alles notwendigerweise dem besten Zweck. Beachtet wohl, daß die Nasen zum Brillentragen gemacht sind; drum haben wir Brillen. Die Beine sind sichtbarlich zum Schuheanziehen eingerichtet; und so tragen wir denn Schuhë und Strümpfe. Die Steine sind geschaffen, daß man sie schneide und daraus Schlösser baue; deshalb haben Seine Gnaden ein wunderschönes Schloß“. (3) Der ästhetisch-moralische Gleichklang von Tugend, Schönheit und Natur, den Shaftesbury und Pope postulieren, wiederholt sich bald darauf in der liberalen Gesellschafts-und Wirtschaftstheorie. Bei Adam Smith (1723 - 1790) verwandelt er sich in die prästabilisierte soziale und wirtschaftliche Harmonie des freien, nicht durch staatliche Eingriffe behinderten Wettbewerbs. Smith verweist so am deutlichsten auf die Wurzeln dieser Harmonisierung aller Widersprüche: Früher als auf dem Kontinent tritt in England an die Stelle der feudalen Ordnung die bürgerliche Gesellschaft und an die Stelle der einfachen Warenproduktion die kapitalistische Ware-Geld-Beziehung. Diderot hat Shaftesburys „Untersuchung über Tugend und Verdienst“, die 1699 erschien, 1745 ins Französische übertragen. Dabei verstand er ihn so, daß er die Grundlagen des Schönen im Nützlichen sehe: „Wenn Sie ihn fragen, was ein schöner Mensch sei, wird er Ihnen antworten, das sei ein Mensch, dessen wohlproportionierte Glieder am glücklichsten zusammenwirken, um die

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"Paradise lost" Lebensfunktionen des Menschen zu erfüllen (...) Von hier aus steigt er dann bis zu den gewöhnlichsten Gegenständen, den Stühlen, Tischen, Türen und so weiter hinab und versucht, Ihnen zu beweisen, daß uns die Form dieser Gegenstände nur in dem Maße gefalle, in dem sie sich für den Gebrauch eignen, für den sie bestimmt sind.“ (4) Diderot hat sich nachdrücklich gegen diese Ableitung des Schönen aus dem Nützlichen gewandt. Damit tat er Shaftesbury zugleich recht und unrecht. Denn so explizit, wie Diderot unterstellt, findet sich diese These bei Shaftesbury gar nicht. Sie ist allerdings als psychologische Konsequenz in seinem Gleichklang von Natur, Schönheit und Tugend bereits angelegt. Diderot hat so frühzeitig die utilitaristische Auslegung geahnt, die der Sensualismus später in den Theorien von John Stuart Mill (1806 - 1874) finden wird. Vor dem hier skizzierten Hintergrund entstehen die „Englischen Gärten“. Sie sind Kunstwerk, moralische Anstalt und psychologisches Labor zugleich. Im Unterschied zum Barockgarten wollen sie den Besucher nicht nur symbolisch läutern und ins Goldene Zeitalter führen. Der Barockgarten setzt das Vorhandensein der symbolisierten Ideen voraus. Für die Sensualisten gibt es aber keine angeborenen Ideen. Die Seele ist für sie eine „tabula rasa“ und erfüllt sich erst unter dem prägenden Einfluß der Außenwelt mit Inhalt. Je vollkommener diese dingliche Matritze ist, desto vollkommener sind auch die dadurch geprägten Ideen. Deshalb muß auch Arkadien, ehe es zum vollkommenen Einklang des Natürlichen, Tugendhaften und Schönen kommt, erst einmal in dinglicher Gestalt verwirklicht werden.

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Der Garten als moralische Anstalt

Der Garten als moralische Anstalt Wie der englische Garten im Kopf einer Elite entstand und in der Landschaft realisiert wurde Der englische Garten tritt seinen Siegeszug zu Beginn des 18. Jahrhunderts an. In wenigen Jahrzehnten verwandelt er die bisher geometrischen Gärten Englands von Grund auf. Er strahlt darüber hinaus in die Landschaft aus, die insgesamt parkähnliche Züge gewinnt. (1) Die Anfänge des neuen Stils zeichnen sich dadurch aus, daß zunächst mehr das symmetrische Grundkonzept als die Details revolutioniert werden. Der frühe englische Garten verbindet die neue Assymetrie von Wegführung, Bepflanzung und Gelände noch mit Elementen des Barockgartens, die zum Teil „emblematischen“ Charakter tragen und deshalb nur verstandesmäßig zu erfassen sind. Die klassische Phase überwindet dann das Emblematische und reduziert das Geometrische auf die palladianische Villa, während der dazugehörige Park möglichst frei von architektonisch-symmetrischen Elementen bleibt. Der Park wird nunmehr „expressiv“. Er wirkt allein auf das Gemüt durch das sanft gewellte Gelände, den unregelmäßigen Teich, Baumgruppen, Gebüsch, Rasen und geschlängelte Wege. In der Spätphase wird diese malerische Kargheit zunehmend als langweilig empfunden. Das Expressive wird nunmehr im „pittoresken“ Sinne umgestaltet. Die Natur erhält ein romantisch-wildes Aussehen. Außerdem wird der Park wieder mit zahlreichen architektonischen Elementen wie Ruinen, Tempeln, Eremitagen usw. durchsetzt, die als psychische Stimuli dienen sollen. Die zuletzt beschriebene Spätform wird auf dem Kontinent am stärksten rezipiert und beeinflußt hier die fürstlichen Gärten des Rokoko. Die vorangegangene klassische Phase findet ihren stärksten Widerhall auf dem Kontinent dagegen erst nach der französischen Revolution. Beispiele sind der Muskauer Landschaftspark des Fürsten Pückler oder der Englische Garten in München. An der Wiege der neuen Bewegung stehen Dichter, Maler, Philosophen und Ästhetiker, die politisch fast durchweg zu den Whigs als Partei der Bourgeoisie gehören. Im Garten von Stowe finden die Ideale der Whigs sogar programmatischen Ausdruck, und die Freunde des Besitzers treffen sich hier zu politischer Konspiration. Grundsätzlich kann aber der englische Garten ebensowenig als unmittelbarer Ausdruck einer politischen Gesinnung verstanden werden wie dies beim Barockgarten als Spiegelbild des fürstlichen Absolutismus der Fall ist. Bereits unter den ersten Anhängern des neuen englischen Gartenstils

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Der Garten als moralische Anstalt finden sich Vertreter der Feudalaristokratie, und seine Spätphase wird sogar hauptsächlich durch Tories repräsentiert. Es wurde mitunter behauptet, die englischen Gärten seien aus der „Berührung“ mit der ostasiatischen Gartenkunst und deren „Einwirkung“ auf Europa entstanden. Tatsächlich wird die Unregelmäßigkeit der chinesischen Gärten schon von Joseph Addison (1672 1719) als vorbildlich hingestellt. Es hieße aber wohl Ursache und Wirkung zu verwechseln, wollte man daraus die Prägung des englischen Gartens durch chinesische Vorbilder ableiten. Es war wohl umgekehrt so, daß die neue Haltung zur Natur nach ReferenzGärten in der Realität Ausschau halten ließ. Für William Chambers (1723 - 1796), der sich am ausführlichsten auf angebliche chinesische Vorbilder berief, diente China sogar als reines Fabelland, dem er willkürlich seine Vorstellungen über die Umgestaltung im „pittoresken“ Spätstil unterstellte. Der englische Garten entsteht auch nicht aus der praktischen Arbeit des Landschaftsgärtners, sondern im Kopf einer Elite. Er ist zunächst ein geistiges Gebilde, eine Fiktion, die sich vom Unbehagen am geometrisch-symmetrischen Barockgarten nährt. Schon Francis Bacon, der Begründer des englischen Empirismus, plädiert in seiner 1625 veröffentlichten Abhandlung „On Gardens“ für die Erweiterung des geometrischen Gartens um ein Stück Rasen im vorderen und ein Stück Gebüsch oder Wildnis (heath or desert) im hinteren Teil. (2) Schon Shaftesbury wendet sich gegen die steife Geziertheit (formal mockery) der fürstlichen Gärten. Und schon 1712 schildert der Whig-Publizist John Addison, wie seiner Ansicht nach der Idealgarten aussehen müßte: nämlich wie „ein Gemisch von Küchen- und Parterre, Baum- und Blumengarten“, das zunächst „für eine natürliche Wildnis und für einen von den unkultivierten Plätzen unseres Landes“ gehalten werden könnte. Die Abkunft dieses Gartens vom Sensualismus Lockes und Shaftesburys wird deutlich, wenn Addison schreibt: „Ein Garten war der Wohnsitz unserer ersten Aeltern vor dem Fall. Er füllt natürlicher Weise die Seele mit Ruhe und Heiterkeit, und besänftigt alle ihre stürmischen Leidenschaften. Er gibt uns Gelegenheit, die Künstlichen Anordnungen und die Weisheit der Vorsehung kennen zu lernen, und biethet uns unzählige Gegenstände zum Nachdenken und zur Betrachtung dar. Ich kann daher nicht umhin, schon das bloße Wohlgefallen und Vergnügen, welches der Mensch an diesen Werken der Natur findet, für eine löbliche, wo nicht für eine tugendhafte Gemüthsbeschaffenheit zu halten.“ (3) In einem anderen Artikel, den er 1710 in seinem Wochenblatt abdruckte, entwarf Addison die Phantasie eines Gartens, dessen Wege und Gebäude als Embleme eines moralischen Weltbildes dienen. Es fängt damit an, daß junge, mittlere und alte Generation ihren eigenen Weg haben. Von den drei Hauptwegen zweigen etliche Wege ab, die teilweise zurückführen, zum Teil aber auch Irrwege sind. So läßt Addison einen Pfad ins „Labyrinth of Coquettes“ abzweigen, in das die betörten Jünglinge den Frauen folgen und aus dem nur Paare den Rückweg finden. Andere Abzweigungen führen zum Tempel der tugendhaften Liebe (Ehe) oder zum Tempel des Lasters. Vor dem Eingang des ersteren, der aus

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Der Garten als moralische Anstalt ionischen Säulen errichtet ist, wacht der Hochzeitsgott Hymen darüber, daß ihn nur Paare mit Ringen an den Fingern betreten. Der Tempel des Lasters ist aus korinthischen Säulen errichtet und ohne Rückkehrmöglichkeit. Entsprechend wandelt die mittlere Generation in Addisons Phantasie zum Tempel der Tugend, zum Tempel der Ehre oder zum Tempel der Eitelkeit. Im Tempel der Tugend stehen die Statuen von Gesetzgebern, Helden, Staatsmännern, Philosophen und Dichtern. Hinter ihm erhebt sich, zunächst unsichtbar, der Tempel der Ehre. In Sichtweite davon, äußerlich ähnlich, aber auf morschem Fundament gebaut, steht der Tempel der Eitelkeit, dem auf besonderen Pfaden die Heuchler zustreben. Die Alten erblicken am Ende ihres Weges den Tempel der Habgier usw. (4) Addison geht davon aus, daß alle Menschen von Wünschen oder Trieben (desires) beherrscht würden, die bei den Jungen die Form der sinnlichen Leidenschaft (lust), bei der mittleren Generation des Ehrgeizes (ambition) und bei den Alten der Habgier (avarice) annähmen. Entsprechend beschaffen sind die Wege der drei Generationen. In seiner Phantasie nimmt Addison so ein gutes Stück des Triebkonzepts der späteren Psychoanalyse vorweg, in dem die „Libido“ entweder ihre sinnliche Erfüllung findet, auf höhere kulturelle Ziele gelenkt wird oder zu purer Habgier regrediert. Früher wäre es ausschließlich Aufgabe der Kirche gewesen, die Pfade zu bestimmen, die zu Tugend und Laster führen. Für den Engländer zu Anfang des 18. Jahrhunderts ist aber die Kirche keine unerschütterte Autorität mehr. Er muß nicht unbedingt ein geschworener Anhänger der Philosophie Lockes zu sein, um sich das, was er als sein moralisches Weltbild im Kopf hat, gern in dinglicher Gestalt bestätigen zu lassen. Als der Dichter Alexander Pope 1718 in Twickenham eine Villa an der Themse erwirbt, legt er den Garten nach den Grundsätzen Addisons an: Die Wege verlaufen kreuz und quer, der ganze Garten wirkt asymmetrisch. Geschlängelte Wege sind allerdings noch die Ausnahme. Auf einem hinterlassenen Plan des Gartens sind Bäume und Sträucher auch nicht einzeln, sondern als Masse zwischen den Wegen eingetragen. Die Mitte nimmt ein rundes Rasenstück ein, an das sich ein Hain anschließt. Von einem Aussichtshügel reicht der Blick über Hain und Rasen zum Obelisken am Ende das Gartens, der von zwei Amphoren flankiert wird und an Popes Mutter erinnern soll. Barockes Vorbild verrät auch die Anlage der Orangerie, auf die mehrere kurze Wege sternförmig zulaufen. Solche symmetrisch-geometrischen Elemente bleiben jedoch Einsprengsel. Sie werden immer schnell vom Unregelmäßigen gebrochen. Es gibt keine wirklich durchgehenden Achsen und Perspektiven. Der besondere Stolz des Besitzers ist ein Tunnel, der das Haus und die daran vorbeiführende Landstraße unterquert, um den hinter dem Haus gelegenen Hauptteil des Gartens mit dem schmalen Vordergarten am Ufer der Themse zu verbinden. Pope hat diesen Tunnel mit seltenen Mineralien als Grotte und den Eingang als Ruine ausgestalten lassen. Um 1720 läßt sich Lord Cobham den Garten von Stowe anlegen. Hier erfolgt der Übergang zum neuen Stil in mehreren Etappen. Das ursprüngliche Konzept ist noch weitgehend dem Barock verpflichtet, mit langen, geraden Alleen und einer Zentralachse, die vom Schloß zu einem oktogonalen Wasserbecken führt. Allerdings wird die Zentralachse

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Der Garten als moralische Anstalt schräg von einer Allee geschnitten, an deren Ende ein Rundtempel einen eigenen Schwerpunkt setzt. Auch sonst wird die Symmetrie der Anlage beiderseits der Zentralachse vielfach durchbrochen. Neu ist ferner die visuelle Einbindung des Parks in die umgebende Landschaft durch Erdmauern und andere Barrieren, die ein Eindringen des Viehs in den Park verhindern und dennoch für das Auge unsichtbar bleiben. In den dreißiger Jahren legt William Kent in Stowe die „Elysischen Gefilde“ an. Er läßt sich dabei von der bereits zitierten Vision Addisons vom Garten als moralischer Anstalt leiten. Ein Teil der alten barocken Anlage wird in ein sanft gewelltes Gelände verwandelt, über das sich Bäume und Gebüsch in malerischer Unregelmäßigkeit verteilen. Das Gelände wird von einem künstlich gegrabenem Flußbett duchzogen, der sinnigerweise den Namen „Styx“ erhält. Beiderseits dieses Wassergrabens errichtet Kent jene Tempel, die in Addisons Phantasmagorie vorweggenommen wurden. Aus dem Tempel der Tugend wird der „Tempel der alten Tugend“ mit Statuen berühmter Männer des alten Griechenland. Den Tempel der Ehre verwandelt Kent in einen „Ehrentempel der edlen Briten“ mit den Büsten Francis Bacons, Lockes, Miltons und anderer Whig-Idole. Den Tempel der Eitelkeit führt er als Ruine aus, um die Verderbtheit des gegenwärtigen Zeitalters mit seinem Tory-Regime zu symbolisieren. Schließlich errichtet er noch einen „Tempel der Freundschaft“ mit den Büsten der wichtigsten Oppositionspolitiker, in dem sich Lord Cobham mit seinen Gesinnungsfreunden zu politischen Gesprächen trifft. Diese frühen allegorischen Elemente des englischen Gartens waren noch sichtlich dem barocken Garten mit seiner Symbolik verpflichtet. Sie waren ein erster Versuch, Addisons Vision in die dreidimensionale Realität umzusetzen. Im Reich der Gedanken hat ein Tempel als Symbol der Tugend aber einen anderen psychologischen Stellenwert als die Materialisierung dieser Phantasie in einem Gebäude. Den angemessenen Ausdruck des neuen Bewußtseins bildeten deshalb nicht so sehr die demonstrativen Statuen und Büsten der Whig-Idole als die eher diskrete, ans Gefühl statt an den Intellekt appellierende Revolution in der gärtnerischen Gestaltung der „Elysischen Gefilde“.

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Das dreidimensionale Arkadien

Das dreidimensionale Arkadien Klassik und Spätstil des englischen Landschaftsgartens In seinen 1770 erschienenen „Observations on modern gardening“ verwirft der Gartentheoretiker Thomas Whateley ausdrücklich alle „emblematischen“ Elemente bei der Gartengestaltung. Zugleich betont er, daß der Garten unregelmäßig anzulegen sei, die Architektur des dazugehörigen Gebäudes jedoch regelmäßig sein müsse. Zu den emblematischen Elementen zählt Whateley Götterfiguren, Texttafeln, Gemälde oder Zypressen (als Trauersymbole). Solche barocken Überbleibsel beeinträchtigten den „expressiven“ Charakter des Gartens (All these devices are rather emblematical than expressive). Die Regelmäßigkeit der alten Gärten sei einem „Mißbrauch“ der Kunst entsprungen. Ebenso falsch sei aber die Forderung, „daß das Gebäude eine irreguläre Figur haben müsse, um mit der Scene, zu der es gehört, überein zu kommen“. Die Baukunst erfordere Symmetrie, die Gegenstände der Natur dagegen Freiheit. (1) Whateleys Forderungen wurden zu dieser Zeit längst in die Praxis umgesetzt: Schon in den vierziger Jahren wichen die emblematischen Elemente und begann die expressive Klassik des englischen Landschaftsgartens. Der hervorragendste Vertreter des gärtnerischen Sensualismus war Launcelot Brown (1715 - 1783). Insgesamt hat Brown über zweihundert Gärten umgestaltet oder neu angelegt. Sein Eifer im Finden von Möglichkeiten (capabilities) zur Umgestaltung alter Anlagen im neuen Stil verhalf ihm zum Beinamen „Capability Brown“. Brown begann seine Karriere zum führenden Landschaftsarchitekten1741 in Stowe, wo er die von Kent begonnene Neugestaltung fortsetzte und unter anderem ein „Griechisches Tal“ anlegte. Er entwickelte ein genauso schlichtes wie wirkungsvolles Repertoire aus sanft gewelltem Rasengelände, Wasserflächen, Baumgruppen und serpentinenartig schwingenden Wegen, das zum Inbegriff des englischen Gartens wurde. Fester Bestandteil seiner Anlagen sind ein natürlich wirkender See und ein Rundweg, der als „beauty line“ die reizvollsten Perspektiven erschließt. Die Begrenzungen des Parks werden durch Anpflanzungen oder freie Ausblicke in die Landschaft kaschiert. Den Gegenpol zum irregulären Garten bildet die Symmetrie der palladianischen Villa. Der Rasen wird unmittelbar an das Bauwerk herangeführt. Selbst die Anfahrt zur Villa erfolgt nicht mehr frontal über eine gerade Allee, sondern tangential über einen weit ausholenden, sanft gekurvten Zufahrtsweg.

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Das dreidimensionale Arkadien Den wohl bemerkenswertesten Landschaftsgarten der klassischen Periode schuf jedoch kein professioneller Landschaftsgärtner, sondern ein Privatmann. Es ist der Park von Stourhead, den der Londoner Bankier Henry Hoare ab 1741 anlegte. Den Mittelpunkt des Gartens bildet, wie bei Brown, ein künstlicher See. Während aber Brown innerhalb des Gartens architektonische Elemente nur sehr spärlich verwendet, werden hier Tempel und ähnliche kleine Bauwerke als Blickfang eingesetzt; möglicherweise als Ausgleich für das fehlende architektonische Element der palladianischen Villa, die hier ausnahmsweise nicht in den Park eingebunden ist, sondern separat liegt. Auch sind die Höhenunterschiede des Geländes größer. Um das unregelmäßige Gestade des Sees folgt der Besucher der „beauty line“, die ihn zu ständig wechselnden, reizvollen Ausblicken führt. Die architektonischen Blickfänge des Gartens, wie Tempel und Brücken, sind dabei abwechselnd nah und entrückt. Durch die Wasserfläche entsteht gleichsam eine träumerische Distanz zum anderen Ufer. Der Verlauf der Wege, die Bepflanzung, die Bauten und die Geländebeschaffenheit sind sorgfältig aufeinander abgestimmt, so daß keine Perspektive dem Zufall überlassen bleibt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird diese klassische Version des englischen Gartens immer mehr von einer Ästhetik des „Pittoresken“ überlagert und verdrängt. Das zeitgenössische Bewußtsein verlangt nach einer Steigerung der emotionalen Stimuli. Der Tory Sir William Chambers (1723 - 1796) verhilft diesem Bedürfnis in seiner 1772 erscheinenden „Dissertation on Oriental Gardening“ zum theoretischen Ausdruck. Er wirft den Anlagen im Stil Browns vor, sie seien „sehr wenig von den gemeinen Feldern verschieden, so genau ist die gemeine Natur in den meisten derselben abgeschildert“. Er spottet, daß die Urheber solcher Parks „sich allerdings sehr gut auf den Salatbau verstehen, aber sehr wenig mit den Grundsätzen der malerischen Gartenkunst bekannt sind“. Demgegenüber preist Chambers die Gartenkunst der Chinesen, die es verstünden, ihre Gärten mit einer Fülle von Effekten auszustatten. Die Palette reiche dabei vom reißenden Wasserfall über düstere Grotten und liebliche Naturszenen bis zu greulichen Drachenfiguren, elektrischen Schlägen und künstlichen Platzregen. Ja, man höre in den chinesischen Gärten sogar die Nachahmung des Geheuls wilder Tiere, von Kanonenschüssen oder der Wehklage gemarterter Menschen. (2) Chambers chinesische Gärten sind ein Phantasieprodukt. Ihrem Erfinder kommt es aber gar nicht auf die Realität an, sondern auf den Stimmungsgehalt. In den königlichen Gärten von Kew Gardens kann er ab 1757 seine Vorstellungen ansatzweise verwirklichen. So entsteht ein Sammelsurium von exotischen Bauwerken, das Nachbildungen der Alhambra, einer Moschee, einer gotischen Kathedrale oder einer chinesischen Pagode enthält. Der Ausbau von Kew Gardens durch Chambers erfolgt im Auftrag des Earl of Bute, der als Erzieher des unmündigen Thronfolgers der faktische Regent des Landes ist. Der Park bildet sozusagen das gärtnerische Gegenstück zum literarischen Illusionstheater des „Ossian“, der zur selben Zeit unter dem Patronat des Earl of Bute in einer Prunkausgabe erscheint. Die angeblichen Gesänge des Barden Ossian aus grauer keltischer Vorzeit sind ebenfalls eine reine Erfindung. Im Unterschied zu Chambers phantastischen chinesischen Gärten werden sie jedoch von fast allen ernst genommen und halten die gesamte gebildete Welt zum Narren.

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Das dreidimensionale Arkadien Aus der neuen Ästhetik des Pittoresken entsteht schließlich sogar eine Ästhetik des Häßlichen. Sir Uvedale Price entwickelt sie in seinem „Essay on the Picturesque“, der 1794 erscheint. Ein anderer Gartentheoretiker, William Gilpin, vertritt die Auffassung, daß eine palladianische Villa erst dann zu malerischer Wirkung gelange, wenn man sie mit dem Hammer bearbeite und in eine Ruine verwandele. Repräsentativ für die Praxis des pittoresken Stils sind die Gärten, die ab den achtziger Jahren nach den Entwürfen von Humphrey Repton (1752 - 1818) entstehen. Repton vertritt die Spätphase des englischen Gartens in ähnlicher Weise wie Brown die klassische. Nach gründlicher Besichtigung eines Anwesens pflegt er seine Vorstellungen über die Umgestaltung in einem Buch niederzulegen, das Darstellungen des alten und des neuen Zustands enthält und in rotes Leder gebunden ist (red books). Er arbeitet mit dem Architekten John Nash zusammen, der für Georg IV. den „Royal Pavilion“ in Brighton als pittoreskes Märchen aus Tausendundeiner Nacht errichtet. Repton bringt die Villa durch Terrassen und andere architektonische Elemente wieder auf Distanz zum Rasen. Der Garten bleibt zwar grundsätzlich irregulär, doch dringen auch hier, als Bestandteil des pittoresken Konzepts, geometrische Elemente in Form von Sondergärten ein. Repton bereitet damit den „gardenesken“ Mischstil Loudons (1783 - 1843) vor, der den einheitlichen Raum des Parks zum totalen Eklektizismus auflöst und so die ursprüngliche sensualistische Konzeption vollends verläßt. Als Theoretiker unterhöhlt Repton die Konzeption vom Garten als moralischer Anstalt, die am Anfang des englischen Gartens stand. Schon Diderot hat hinter Shaftesburys Gleichklang von Natur, Schönheit und Tugend die utilitaristische These von der Schönheit des Nützlichen gewittert. Repton begnügt sich vorläufig damit, das Nützliche vom Schönen zu trennen. Er zieht einen klaren Trennstrich zwischen Illusion und Realität. Zum Beispiel macht er detaillierte Vorschläge, wie sich Fabriken und andere störende Elemente beim Ausblick aus dem Park verbergen lassen könnten. Die Begründer des englischen Gartens glaubten dagegen noch, das Angenehme mit dem Nützlichen vereinbaren zu können. So mischen sich in der Garten-Phantasie Addisons Bäume, Bachgeplätscher und Vogelgezwitscher ganz zwanglos mit den „langen Reihen meiner Kraut- und Kohlköpfe“. Der Gärtner Stephen Switzer (1682 - 1745) nannte die Verbindung des Angenehmen mit dem Nützlichen sogar als erste Aufgabe der Gartenkunst. Noch Whateley begeisterte sich für die „ornamented farm“, bei der landwirtschaftliches Gut und Umgebung eine einzige Parklandschaft bilden. Den bekanntesten Versuch zur Verwirklichung unternahm der Dichter William Shenstone auf seinem Gut „Leasowes“. Repton wies solche Einbeziehung der Landwirtschaft in die Landschaftsgärtnerei entschieden zurück. Die „ornamented farm“ sei ein Widerspruch in sich, weil Schmückendes und Profit nun mal unvereinbar seien. Es müsse „ein Unterschied zwischen dem Gut eines Pächters, der aus jedem Stück seines Landes Nutzen ziehen muß, und dem gemacht werden, das einem gentleman zu Zwecken des Zeitvertreibs oder des Experiments gehört“.

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Das dreidimensionale Arkadien Die „ornamented farm“ war zugleich die Vision einer harmonischen Gesellschaft, in der Nützliches und Schönes, Arbeit und Muße, Privat- und Gemeinnutz in ähnlicher Weise ineinander übergehen und eine Einheit bilden wie das ländliche Gut mit seiner Umgebung. Repton räumt mit solchen Illusionen der bürgerlichen Frühzeit nun endgültig auf: „In diesem Land werden, hoffe ich, für immer verschiedene Klassen und Stände der Gesellschaft existieren, welche meist vom Anteil des von verschiedenen Individuen entweder ererbten oder erworbenen Eigentums abhängen müssen; und so lange wie solche Unterschiede bestehen, wird es angemessen sein, daß der Sitz eines jeden durch solch unterschiedliche Charaktere ausgezeichnet werden, daß sie nicht leicht mißzuverstehen sind (...) Rang und Wohlstand sind in England keine Verbrechen; im Gegenteil wir erwarten, einen merklichen Unterschied im Stil, im Aufzug und in der Wohnung wohlhabender Individuen zu sehen; und dieser Unterschied muß sich auch auf das Gelände in der Nachbarschaft ihrer Wohnungen erstrecken; denn Übereinstimmung des Stils und Einheit des Charakters gehören zu den ersten Prinzipien des guten Geschmacks.“ (3)

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Empfindsamkeit

Empfindsamkeit Die Verwirklichung Arkadiens im kontinentalen Garten des 18. Jahrhunderts Der Wunsch, sich in Ideal-Landschaften nach Art Lorrains zu ergehen, blieb nicht auf England beschränkt. Er griff in der zweiten Hälte des 18. Jahrhunderts auch auf den Kontinent über. Auch hier begann man nun, die geometrisch-symmetrischen Barockgärten als langweilig zu empfinden. Der Zeitgeist wollte emotional statt kognitiv angesprochen werden. Die neue Epoche der „Empfindsamkeit“ delektierte sich nicht am Symbolischen, sondern am unmittelbaren Gefühlswert einer Erscheinung. Das arkadische Landschaftsbild war inzwischen über viele Generationen hinweg so vertraut geworden, daß es ohne kognitive Umwege, ohne Entschlüsselung seiner symbolischen Inhalte, die Empfindung irdischer Glückseligkeit hervorrief. Es lag nahe, dieses Sentiment noch zu steigern, indem man das Bild aus dem zweidimensionalen Rahmen herauslöste und begehbare Bilder nach Art des englischen Gartens schuf. Typisch für die neue Empfindsamkeit ist Julies Baumgarten, wie ihn Rousseau in seiner 1761 veröffentlichten „Neuen Heloise“ beschreibt. Diesem Baumgarten fehlen sämtliche Elemente, die den Schmuck der traditionellen Gärten bilden. Er ist vielmehr ein höchst intimer, von außen den Blicken entzogener Hausgarten, worin Bäume und Büsche angenehme Kühlung spenden, der Blick von den Schattierungen des Grüns gefangen wird, ein Bächlein rieselt und die Vögel zwitschern. Julie hat diesen Garten mit einfachsten Mitteln auf einem ehemaligen Obstgrundstück angelegt. Er dient ihr als Ersatz für den benachbarten Hain, den sie seit ihrer Heirat flieht, weil er sie an die unglückliche Liebe zu St. Preux erinnert. Er ist somit ein Spiegelbild ihres tugendhaften Gemüts. Und auch auf den Ex-Geliebten verfehlt er seine Wirkung nicht: Schon nach kurzem Aufenthalt wird das Gemüt von St. Preux so tugendhaft veredelt, daß er sich seiner fortdauernden Leidenschaft für Julie zu schämen beginnt. (1) Julies Baumgarten ist eine reine Fiktion. Er existiert nur im Kopf Rousseaus. Dennoch trägt er eine Tendenz zur Verdinglichung, zur Materialisierung geistiger Werte, in sich, die früheren Zeiten unbekannt war. Er demonstriert, daß sich das Moralische nicht mehr „von selbst“ versteht, sondern in die dingliche Kategorie der Natur übersetzt werden muß. Die Moral gründet sich hier nicht mehr auf göttliches Gebot, sondern bedarf der Stimulierung durch einen Garten, der sozusagen als moralische Anstalt fungiert. Rousseau kontrastiert das intime, natürliche und bescheidene Elysium Julies zu der „prachtvollen Einöde“ des Gartens von Stowe, der mit exotischen Landschaften und Gebäuden überladen sei. Vermutlich kannte er die englischen Gärten nicht besonders gut. Möglicherweise hat er die frühen emblematischen Formen des Gartens von Stowe mit einem

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Empfindsamkeit Park des pittoresken Spätstils wie Kew Gardens verwechselt. (2) Seine Beschreibung von Julies Hausgarten stimmt aber in frappierender Weise mit dem Idealgarten überein, der an der Wiege der englischen Gartenkunst steht: Auch bei Joseph Addison, der 1712 den englischen Garten in Gedanken antizipiert, wachsen einfache, heimische Bäume und Sträucher, rieselt der Bach und zwitschern die Vögel. Bezeichnend für den Wandel des Zeitgeistes, hin zur Empfindsamkeit, war die Kritik, die nunmehr an barocken Anlagen geübt wurde. Zum Beispiel am Schwetzinger Schloßgarten, der 1753 noch ganz im „französischen“ Stil begonnen worden war. „Es sind unermeßliche Summen hier an eine Anlage in der alten Symmetrie verschwendet worden“, befand 1773 der Kieler Philosophieprofessor und Gartentheoretiker Hirschfeld, als er die Sommerresidenz des pfälzischen Kurfürsten besichtigte. „Der Garten ist von einem großen Umfang; desto mehr wird man durch die ewige Symmetrie ermüdet, die hier durchgängig herrscht, bis auf einen kleinen Bezirk, den man den englischen Garten nennt. Man sieht nichts als große, gerade Alleen, Hecken und Bogengänge mit Linial und Schnur gezogen, Arcaden, Altane und Nischen von Baumwerk gebildet, eine unnütze Menge von eisernem und hölzernem Gitterwerk; und dazwischen Parterre, Wasserkünste, stehende und liegende Figuren, meistens von Marmor in natürlicher, einige von Gyps in colossalischer Größe, endlich reguläre Wasserbehältnisse. Überall erblickt man Kunst, Pracht und Kosten, aber desto weniger Geschmack, sowohl in Rücksicht auf die Anlage des Ganzen, als auch auf einzelne Szenen.“ (3) Obwohl der Schwetzinger Schloßgarten einem am englischen Vorbild orientierten Gartenfreund wie Hirschfeld nicht gefallen konnte, enthielt bereits die ursprüngliche Anlage mehr Neues, als die scharfe Kritik vermuten lassen könnte. Am auffallendsten waren die künstlichen Ruinen, die der frühe barocke Garten nicht gekannt hat. Sie stammten offensichtlich aus dem arkadischen Landschaftsbild. Sie waren aus der Fläche in den Raum verpflanzt und so zum realen, dinglichen Inventar des Gartens geworden. Auf den Gemälden hatten diese Ruinen ursprünglich symbolische Funktion. Im frühesten Kontext sollten sie wohl, im Kontrast zur christlichen Gegenwart, auf heidnische Vorzeit vorweisen. Später standen sie für antike Größe und als Ortsbestimmung für Arkadien. Inzwischen waren sie in der zweiten Funktion so vertraut geworden, daß das Symbol als eigenständiger Gemütswert dienen konnte: Die künstliche Ruine vergegenständlichte die Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter. Sie materialisierte eine diffuse Sehnsucht nach vergangener Pracht und Größe, die bereits Nostalgie im modernen Sinne war. Zum Beispiel wurden nun im Schwetzinger Schloßgarten das römische Aquaedukt und der Merkurtempel errichtet. Beide Bauwerke wurden von vornherein als Ruinen ausgeführt. Durch die Verwendung von Tuffstein erhielten diese Ruinen ein stark verwittertes Aussehen, als habe der Zahn der Zeit schon viele Jahrhunderte an ihnen genagt. Den Stimmungswert der Ruine verstärkte noch die Art ihrer Einfügung in die Gartenlandschaft. Einer der Grundsätze war dabei, daß die Ruine, soweit sie aus größerer Entfernung zu sehen war, völlig entrückt wirken mußte. Die Wege, die zu ihr hin führten, durften weder sichtbar noch breit und gerade angelegt sein. Nur die Sehnsucht sollte die Distanz zu vergangener Pracht und Größe überbrücken dürfen. Im Kontrast zur Fernan-

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Empfindsamkeit sicht stand die erhabene Nahwirkung der Ruine, wenn sie sich dem Spaziergänger hinter einer letzten Wegbiegung überraschend offenbarte. In seinen „Beiträgen zur bildenen Gartenkunst“ gab der Landschaftsgärtner Sckell dazu folgende Anleitung: „Die Lage der Ruinen sollte gewöhnlich in fernen Gegenden des Parks, vorzüglich auf Anhöhen und da gewählt werden, wo sich die Natur in ihrem ernstlichen, feierlichen Charakter zeigt, wo Einsamkeit und schauerliche Stille wohnt, wo die ungesehene Aeolsharfe ertönt, wo dunkle Gebüsche in ungetrennten Massen fast alle Zugänge unmöglich machen, wo der alte Ahorn, die bejahrte Eiche zwischen den bemoosten Mauern stolz emporsteigen, und ihr Alterthum bekunden; da können sich solche traurigen Reste aus längst verschwundenen Jahrhunderten schicklich erheben, und der Täuschung nähertreten.“ (4) Zur Sehnsucht nach Vergangenem gesellte sich die Sehnsucht nach Exotischem. Die fernen Reiche Chinas, Japans, Indiens, der Türkei und Ägyptens dienten als arkadische Ersatz-Welten. Eine Reise in diese Länder war damals nur wenigen Kaufleuten und Forschern möglich. Die Berichte und Kenntnisse waren von Legenden durchsetzt. Um so mehr eigneten sich diese fernen Reiche als Projektionsfläche für die Empfindsamkeit. Sie galten als abgeschlossene, in sich ruhende Kulturen, sozusagen als Fossilien des Goldenen Zeitalters, denen die Unruhe und Zerrissenheit des modernen Europa so fremd sein mußten wie es ihrer eigenen Fremdartigkeit in europäischen Augen entsprach. Als Versatzstücke dieser exotischen Welten entstanden in den Parks chinesische Brükken und Pagoden, japanische Teehäuser, türkische Moscheen, ägyptische Sphynxe und Obelisken. Auch die „Schweizereien“ als Allegorie naturverbundenen Lebens gehören in diesen Zusammenhang. Es kam vor, daß eine Meierei in ein chinesisches Dorf und ein chinesisches Dorf in eine Schweizerei umgewandelt wurde, wie es gerade dem vorherrschenden Geschmack entsprach. Bei den ägyptischen Sphynxen, Obelisken und Pyramiden vermischte sich der exotische Reiz einer fernen, noch gegenständlich erhaltenen Kultur mit der Nostalgie eines längst untergegangenen Reiches. Im Schwetzinger Schloßpark sollte die künstliche Ruine des Merkurtempels ursprünglich ein ägyptisches Grabmal werden. Ein ägyptischer Obelisk schmückte die Stelle, an der man ein „Keltengrab“ gefunden zu haben glaubte. Hinzu kam oft noch ein besonderer Symbolgehalt im Sinne freimaurerischer Bestrebungen. Da das Exotische von ähnlicher psychologischer Qualität wie das Nostalgische war, wurde es in derselben Weise dem Blick entrückt und zugeführt. Vorzüglich eigneten sich Wasserflächen, um die träumerische Distanz herzustellen. Im Schwetzinger Park war es die Wasserfläche desselben Teichs, die auf der einen Seite das nostalgische Motiv des Merkurtempels und auf der anderen Seite das exotische Motiv der türkischen Moschee in unerreichbar scheinende Ferne entrückte. Im Bemühen, das Gefühl unmittelbarer anzusprechen, wurde die traditionelle Symbolik mehr zum Allegorischen hin verschoben. Zum Beispiel entstand im Schwetzinger Park ein

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Empfindsamkeit „Tempel der Waldbotanik“. Dieses Bauwerk war kein bloßes Symbol mehr, das durch den Kanon der Säulenordnung, der Kapitelle, des Frieses, des Architravs, das Statuenschmucks usw. eine bestimmte Bedeutung erhielt. Der Tempel wurde vielmehr in der Form eines runden Baumstumpfs mit rindenartig zerfurchter Oberfläche errichtet. Er appellierte damit unmittelbar an die sinnliche Wahrnehmung bzw. an das Gefühl. Die Architektur wurde zur „architecture parlante“, die keiner verstandesmäßigen Übersetzung mehr bedurfte. „Dieser Tempel der Waldbotanik zeigt den meisten Geschmack, und ist eine eben so glückliche, als neue Erfindung“, meinte der Gartentheoretiker Hirschfeld, als er 1773 in Schwetzingen weilte und den barocken Teil einer scharfen Kritik unterzog. Die „sehr gute und sehr schickliche Anlage“ werde leider durch die beiden Sphynxe am Eingang gestört, die „hier ganz unschicklich“ seien. Auch die beiden Vasen zu Seiten des Tempels seien überflüssig. In Verbindung mit dem Tempel der Waldbotanik wurde ein Stück des Schwetzinger Schloßgartens in völlig neuer Manier angelegt. Es war jener kleine Bezirk des „englischen Gartens“, den Hirschfeld in seiner Beschreibung ausdrücklich von der „ermüdenden Symmetrie“ der Gesamtanlage ausnimmt. In diesem relativ kleinen und schmalen, durch eine Mauer abgetrennten Teil verließ nun auch die Natur die geometrische Symbolik des Barockgartens und wurde allegorisch: Sie ahmte nämlich jene arkadische Landschaft nach, die bisher nur aus der Malerei bekannt war. Es war in diesem Abschnitt des Gartens nicht mehr nötig, die Statue eines Pans oder eine Hirtenszene als Symbol für Arkadien zu erkennen. Dem empfindsamen Betrachter erschloß sich die Bedeutung dieses Gartenteils vielmehr ganz unmittelbar. Die Geometrie war hier verbannt. Statt über abgezirkelte Blumen-Rabatten und Bosketts schweifte der Blick über ein sanft hügeliges Gelände mit Rasen, Bäumen und Wasserflächen. Sogar die antike Ruine als Ortsbestimmung für Arkadien war vorhanden: in Form eines verfallenen römischen Aquaedukts, aus dessen geborstenem Kanal das Wasser in den Teich plätscherte. Dieser englische Gartenteil war das Werk des Gartenarchitekten Ludwig von Sckell, den Kurfürst Carl Theodor mit der weiteren Gestaltung des Schwetzinger Schloßgartens beauftragt hatte. Als Hirschfeld 1773 den Park besichtigte und seine Kritik an der ermüdenden Symmetrie übte, hatte Sckell soeben begonnen, eine große Randzone um den Barockgarten im englischen Stil zu verwandeln. Der Kurfürst hatte ihn persönlich nach England geschickt, damit er die dortige Gartenkunst studiere und in Schwetzingen anwende. Hirschfelds Kritik rannte somit offene Türen ein.

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"Zwang des Ungezwungenen"

"Zwang des Ungezwungenen" Was Goethe und Hegel an der neuen Empfindsamkeit störte Während Hirschfeld noch die barocken Gärten kritisierte und eine Lanze für die Empfindsamkeit brach, erhob sich bereits neue Kritik. Diese richtete sich just gegen die Empfindsamkeit und den neuen englischen Gartenstil, wie er auf dem Kontinent verstanden und in gärtnerische Tat umgesetzt wurde. Dabei muß wohl berücksichtigt werden, daß der englische Garten auf dem Kontinent weniger in seiner klassischen Form nach Art von „Capability Brown“ als in seinen Spätformen (Chambers, Repton) rezipiert wurde. Denn gerade in diesen Spätformen zeigte die neue Empfindsamkeit zunehmend ihre negativen Seiten. Sie entpuppte sich als Gefühlskitsch, der auf präpapierte Reize in Aktion tritt und nach immer gröberen dinglichen Stimuli verlangt. Justus Möser hat die „Anglomanie“ der neuen Gartenkunst in einem satirischen Brief aufgespießt, den eine „Anglomania Domen“ an ihre Großmutter schreibt. (1) Die Enkelin schildert darin die Verwandlung des „Kohlstücks“, das der Großmama in ihrer Jugend zum Bleichen der Wäsche diente, in einen englischen Garten: „Ihr ganzer Krautgarten ist in Hügel und Thäler, wodurch sich unzählige krumme Wege schlängeln, verwandelt; die Hügelgen sind mit allen Sorten des schönsten wilden Gesträuches bedeckt, und auf unsern Wiesen sind keine Blumen, die sich nicht auch in jenen kleinen Thälergen finden. Es hat dies meinem Manne zwar vieles gekostet, indem er einige tausend Fuder Sand, Steine und Lehmen auf das Kohlstück bringen lassen müssen, um so etwas schönes daraus zu machen. Aber es heißt nun auch, wenn ich es recht verstanden, eine Schrubbery, oder wie andere sprechen, ein englisches Boßkett.“ Weiter schildert die „Anglomania Domen“ ihrer Großmutter, wie ein Wasserstück ausgegraben werden soll, das von einer chinesischen Brücke überspannt wird. Zur Belebung des Gewässers sei ein halbes Dutzend Schildkröten vorgesehen. Jenseits der Brücke solle eine gotische Kirche entstehen. - Ein Einfall, den ihr Mann vermutlich dem englischen Garten von Stowe entnommen habe. Die Kirche werde wohl nicht größer als ein Schilderhäuschen sein, „aber die gothische Arbeit daran wird doch allemal das Auge der Neugierigen an sich ziehen, und oben darauf kommt ein Fetisch zu stehen“. Nicht minder radikal war die Kritik, die Goethe in dem 1777 verfaßten „Triumph der Empfindsamkeit“ an der englischen Gartenmode übte. Anders als Möser zielte Goethe weniger auf die „Anglomanie“ als auf die dahinterstehende Psychologie der Empfindsamkeit. Es handelte sich dabei zugleich um Selbstkritik, denn Goethe hatte zuvor maßgeblich die

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"Zwang des Ungezwungenen" Gestaltung des Parks von Weimar im englischen Stil betrieben. Vielleicht war dies der Grund, weshalb der „Triumph der Empfindsamkeit“ erst zehn Jahre später gedruckt wurde. Goethe läßt darin den Hofgärtner in der Hölle über seine neue Aufgabe und die wundersame Veränderung der Unterwelt im englischen Gartenstil berichten: „Die Charge ist hier unten neu: Denn ehemals war Elysium dadrüben, Die rauhen Wohnungen dahüben, Man ließ es eben so dabei. Nun aber kam ein Lord herunter, Der fand die Hölle gar nicht munter, Und eine Lady fand Elysium zu schön. Man sprach so lang, bis daß der seltne Gusto siegte Und Pluto selbst den hohen Einfall kriegte, Sein altes Reich als einen Park zu sehen.“ Das Gedicht schildert weiter, wie nun die Hölle zur Parklandschaft umgestaltet wird. Und zwar geschieht dies auf Kosten „Elysiums“, dessen Erdreich dafür verschwendet wird und in dessen Hainen die schönsten Bäume ausgegraben werden, um die Hölle zu verschönern. Sogar die Hütte des Zerberus, des Höllenhunds, wird in eine Kapelle verwandelt: „Denn, notabene! in einem Park Muß alles ideal sein, Und salva venia jeden Quark Wickeln wir in eine schöne Schal‘ ein, So verstecken wir zum Exempel Einen Schweinestall hinter einem Tempel; Und wieder ein Stall, versteht mich schon, Wird geradewegs ein Pantheon.“ Den Schluß des Gedichts bildet eine umfassende Aufzählung all jener nostalgisch-exotischen Versatzstücke, welche die Empfindsamkeit anregen sollen: „Wir haben Tiefen und Höhn, Eine Musterkarte von allem Gesträuche, Krumme Gänge, Wasserfälle und Teiche, Pagoden, Höhlen, Wieschen, Felsen und Klüfte, Eine Menge Reseda und andres Gedüfte, Weimutsfichten, babylonische Weiden, Ruinen, Einsiedler in Löchern, Schäfer im Grünen, Moscheen und Türme mit Kabinetten, Von Moos sehr unbequeme Betten, Obelisken, Labyrinthe, Triumphbogen, Arkaden, Fischerhütten, Pavillons zum Baden, Chinesisch-gotische Grotten, Kiosken, Tings,

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"Zwang des Ungezwungenen" Maurische Tempel und Monumente, Gräber, ob wir gleich niemand begraben? Man muß es alles zum Ganzen haben.“ Aus Goethes „Triumph der Empfindsamkeit“ spricht das Unbehagen an der zunehmenden Verdinglichung der geistigen Werte: Der Fürst der Unterwelt, vom Zeitgeist angesteckt, läßt das Elysium plündern, um seine Hölle in einen Park zu verwandeln. Das Elysium steht für die geistigen Werte und abstrakten Vorstellungen. Die Hölle ist dagegen die Welt des Dinglich-Stofflichen. Pluto nimmt keine Rücksicht darauf, daß die geistigen Werte durch Verpflanzung in die rauhe Welt des Stofflichen verkümmern müssen („Unsre elysischen Bäume / Schwinden wie Träume, / Wenn man sie verpflanzen will“ heißt es an einer Stelle des Gedichts). Es kommt ihm allein auf den schönen Schein an, auch wenn sich hinter einem Tempel nur ein Schweinestall versteckt und hinter einer Kapelle die Hütte des Zerberus. Dasselbe Unbehagen spricht aus Hegels Kritik an der englischen Gartenmode. (2) Der Philosoph und Ästhetiker konstatierte ein Übergewicht des Malerischen: „Ein großer Park dagegen, besonders wenn er mit chinesischen Tempelchen, türkischen Moscheen, Schweizerhäusern, Brücken, Einsiedeleien und wer weiß mit was für anderen Fremdartigkeiten ausstaffiert ist, macht für sich selber schon einen Anspruch auf Betrachtung; er sollfür sich selbst etwas sein und bedeuten. Doch dieser Reiz, der sogleich befriedigt ist, verschwindet bald, und man kann dergleichen nicht zweimal ansehen; denn diese Zutat bietet dem Anblick nichts Unendliches, keine in sich seiende Seele dar und ist außerdem für die Unterhaltung, das Gespräch beim Umhergehen nur langweilig und lästig.“ In einem wirklich anregenden Park muß nach Hegels Ansicht das Malerische der Landschaft immer durch das „Architektonische“ ergänzt und gezügelt werden. Diese Ergänzung mit verständigen Linien, mit Ordnung, Regelmäßigkeit, Symmetrie sei in der französischen Gartenkunst besser gelungen. Hegel hielt auch nichts von der scheinbaren Ungezwungenheit des neuen Stils. Er durchschaute diese Berufung auf das Natürliche als eine neue Art des Zwangs: „In solch einem Park, besonders in neuerer Zeit, soll nun einerseits alles die Freiheit der Natur selber beibehalten, während es doch andererseits künstlich bearbeitet und gemacht und von einer vorhandenen Gegend bedingt ist, wodurch ein Zwiespalt hereinkommt, der keine vollständige Lösung findet. Es gibt in dieser Rücksicht zum größten Teil nichts Abgeschmackteres als solche überall sichtbare Absichtlichkeit des Absichtslosen, solchen Zwang des Ungezwungenen.“

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Gothic revival

Gothic revival Wie in England die nostalgische Verklärung des Mittelalters begann Das „Abgeschmackte“, das Hegel am englischen Landschaftsgarten störte, war durchaus noch steigerungsfähig. Es fand seinen extremen Ausdruck in den zahlreichen „follies“, „shams“ und „eyecatchers“, die sich entsprechend betuchte Engländer bis ins 19. Jahrhundert errichten ließen. Dabei handelte es sich um rein dekorative Bauten, die als Lieferanten psychischer Stimuli dienen sollten. Entscheidend war dabei weniger die Schönheit des Bauwerks als seine Fähigkeit, auf assoziativem Wege ein nostalgisches Erlebnis zu vermitteln, das entweder in die Vergangenheit oder in exotische Gefilde entführte. Zum Beispiel ließ sich der Postmeister von Bath 1762 in Sichtweite seines Hauses auf einem Hügel ein „sham castle“ errichten, das eine mittelalterliche Ritterburg vortäuschte, in Wirklichkeit aber lediglich aus einer gemauerten Kulisse bestand. Andere "shams" gaukelten verfallene Kirchen und sonstige romantische Bauwerke vor. Den Charakter des Unechten, Vorgetäuschten hatten auch solche "follies", die allen drei Dimensionen genügten, wie jener riesige Palast im "gotischen" Stil, den sich William Beckford von 1796 bis 1812 mit „Fonthill Abbey“ errichten ließ. Es ist bezeichnend, daß Beckford für die Verwirklichung dieser maßlosen, alle gewohnten Dimensionen sprengenden Phantasmagorie das palladianische, maßvolle Schloß seines Vaters abreißen ließ. Nicht minder symbolisch war die mangelhafte Statik dieses Architekturtheaters, die schon nach wenigen Jahren den riesigen Turm zusammenstürzen und den Palast unter sich begraben ließ. Zur grandiosesten aller "follies" geriet der Palast, den der englische Thronfolger und König Georg IV. zwischen 1786 und 1823 in Brighton errichten ließ. Die Geschichte dieses Palastes zeigt mustergültig, wie die ursprüngliche Sehnsucht nach Arkadien vom Bedürfnis nach immer stärkeren Reizen abgelöst wurde, wie eine noch klassizistisch geprägte Empfindsamkeit der fortschreitenden Verdinglichung des Bewußtseins zum Opfer fiel und wie im Zeichen der französischen Revolution die Nostalgie eine reaktionäre Färbung annahm. Die Stelle des späteren „Royal Pavilion“ war ursprünglich - sinnigerweise - der Schauplatz eines königlichen Schäferspiels: Der Kronprinz, der 1783 zum ersten Mal nach Brighton kam, hatte dort eine junge Witwe namens Maria Fitzherbert kennen und lieben gelernt. Maria war allerdings so sittsam, daß sie die Vereinigung nur im Wege der Ehe gewähren wollte. Außerdem war sie katholisch, was eine Heirat mit dem Thronfolger von vornherein ausschloß. Schäfer und Schäferin übersprangen diese Hürden jedoch leichtfüßig, indem sie 1785 heimlich heirateten. Um seiner Geliebten möglichst nahe zu sein, mietete der Thronfolger ein Bauernhaus am Strand des Fischerstädtchens. Insoweit entsprachen die Akteure und die Staffa*ge vollkommen dem Zeitgeschmack am pastoralen, naturverbun-

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Gothic revival denen Leben. Von den Schäferspielen, mit denen sich zur selben Zeit Marie-Antoinette als Gemahlin Ludwigs XVI. im Park von Versailles amüsierte, unterschied sich die Inszenierung in Brighton lediglich durch die perfektere Illusion, die ja auch der englische Landschaftsgarten dem Arkadien auf der Leinwand voraus hatte. Schon bald aber fand der Prinz an der ländlichen Idylle keinen Geschmack mehr. Im Jahr 1787 beauftragte er den Architekten Henry Holland mit dem Umbau und der Erweiterung des Hauses. Das Ergebnis war ein symmetrischer „Marine Pavilion“ von vornehmer Zurückhaltung im neoklassizistischen Stil. Im Innern des Hauses ging es weniger zurückhaltend zu. Es wird von prunkvollen und oft zügellosen Festen berichtet, zu denen auch französische Gäste kamen - anfangs als Aristokraten des ancien régime, später als Vertriebene der französischen Revolution, die nur durch Flucht dem Schicksal Marie-Antoinettes entronnen waren. Als Prinz hatte Georg IV. anfangs mit den Whigs sympathisiert. Der von dem Whig-Architekten Henry Holland erbaute "Marine Pavilion", dem die gebogenen Fensterfronten und eisernen Balkone eine gewisse französische Eleganz und die ersten Merkmale des „regency“-Stils verliehen, bekundete mit seinem vornehmen Neoklassizismus zugleich einen bestimmten politischen Geschmack. Ein Tory-Kritiker schmähte die Schöpfung des Whig-Architekten Holland damals als „unbestimmbares bauliches Ungetüm, das wie ein Tollhaus aussieht oder wie ein Haus, das verrückt geworden ist“. So ungerecht dieses Urteil war, so zutreffend wurde es für das spätere Aussehen des Baues, nachdem Georg IV. unter dem Eindruck der französischen Revolution zunehmend konservativen Ansichten zuneigte. Es begann damit, daß ab 1801 die Inneneinrichtung des Palastes im "chinesischen Stil" erneuert, pompöse Pferdeställe im "indischen Stil" errichtet und weitere Anbauen hinzugefügt wurden. Auch äußerlich sollte der neoklassizistische Bau ein exotisches Aussehen bieten. Ein Entwurf sah vor, ihn ebenfalls im "chinesischen Stil", mit pagodenartigen Dächern, zu verändern. Schließlich entschied sich Georg IV. jedoch für den "indischen Stil". Von 1815 bis 1822 wurde der ursprüngliche Bau von dem neuen Architekten John Nash bis zur Unkenntlichkeit verändert. Mit zahlreichen baldachinartigen oder zwiebelförmigen Kuppeln, minarettartig emporschießenden Türmchen und einem reichhaltigen filigranen Dekor explodierte das Gebäude zu einem architektonischen Feuerwerk, zu einer einzigartigen Phantasmagorie, die irgendwo zwischen dem Tadsch Mahal und der Alhambra angesiedelt schien. Es glich nun tatsächlich einem "Haus, das verrückt geworden ist". (1) In der englischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah es ähnlich aus wie in der Architektur oder im Landschaftsgarten: Auch hier führte der Spazierweg entlang der "beauty line" rund um den Teich der Vergangenheit, über den geheimnisvolle Nebelschwaden zogen und der empfindsamen Seele die märchenhaftesten Ausblicke auf Tempel und Ruinen einer fernen Vorzeit eröffneten. Da die fortschreitende Verdinglichung des Bewußtseins nach immer stärkeren psychischen Reizen verlangte, entstanden bald auch in diesem literarischen Landschaftsgarten die verrücktesten "follies", die angebliche Texte aus dem Mittelalter und grauer Vorzeit darstellten, während sie bei genauerem Hinsehen leicht als Fälschung zu erkennen gewesen wären.

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Gothic revival Allgemein bahnt sich im England der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine nostalgische Verklärung des Mittelalters an. Parallel zum Klassizismus, diesen überlagernd und ablösend, macht sich das „gothic revival“ breit: An die Stelle des Rationalen, Klaren, Symmetrischen, Harmonischen, Wohlgeordneten treten das Irrationale, Bizarre, Ungleichmäßige, Disharmonische, Ungeordnete. Es scheint, als sei das englische Bürgertum geistig obdachlos geworden, als dringe der metaphysische Katzenjammer durch alle Ritzen seiner rationalen, das Leben nach Pfund, Shilling und Penny taxierenden Weltanschauung. Weder die anglikanische Staatskirche noch die puritanischen Sekten vermögen offenbar die Sehnsucht zu stillen, die aus der Öde des kapitalistischen Kalküls erwächst. Das gilt sowohl für die Begüterten, die ihr Leben in Überfluß und Müßiggang verbringen können, wie auch und erst recht für jene, die vom Joch der neuen Ausbeutung bedrängt und erdrückt werden. Zu denen auf der Sonnenseite gehört Horace Walpole (1717 - 1797), Sohn des berühmten Robert Walpole, der die englische Politik unter Georg I. und Georg II. maßgeblich bestimmte. Schon in jungen Jahren hat Walpole mit einem Freund, dem Dichter Thomas Gray, eine ausgedehnte Reise durch Italien und Frankreich unternommen. Durch Herkunft und hochdotierte Sinekuren der Regierung ist es ihm möglich, seine künstlerischen und gelehrten Neigungen mit einem aristokratischen Lebensstil zu verbinden. Er gilt als feinsinniger Kunstfreund und hervorragender Kenner des Altertums. Dieser Horace Walpole erwirbt gegen Ende der vierziger Jahre eine Villa in Twickenham an der Themse, die er von 1751 bis 1796 in mehreren Abschnitten und für über 20 000 Pfund in einem eigenwilligen Stil umbauen läßt, den er für „gothic“ bzw. mittelalterlich hält. Das Ergebnis ist weitaus mehr Wunschtraum als reale Kopie mittelalterlicher Bauformen. Aber gerade deshalb entspricht Walpoles Villa „Strawberry Hill“ dem Geschmack des Zeitgeistes und kann zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Bauten im „gothic style“ werden. (2) Ähnlichen Erfolg hat Walpole im Bereich der Literatur, als er 1765 seinen Roman „Das Schloß von Otranto“ veröffentlicht. Das Buch erscheint zunächst als angebliche Neuausgabe eines spätmittelalterlichen Romans, der von einem gewissen Onuphrio Muralti verfaßt und 1529 in Neapel gedruckt worden sei. Erst der über Erwarten große Beifall, den die ersten 500 Exemplare fanden, veranlaßt Walpole, sich ab der zweiten Auflage als Verfasser zu bekennen. Sein "Schloß von Otranto" wird zum Muster der „gothic novel“ und begründet so das Genre des neuzeitlichen Ritter-, Schauer- und Gespensterromans.

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Die Tagträume des Thomas Chatterton

Die Tagträume des Thomas Chatterton Wie ein phantasierender Knabe die Bürger der Stadt Bristol zum Narren hielt Bei denen, die in ärmlichen und gedrückten Verhältnissen leben mußten, fiel das „gothic revival“ ebenfalls auf fruchtbaren Boden. Das eindrucksvollste Beispiel für die Flucht aus einer tristen Realität in ein idealisiertes Mittelalter bietet der Knabe Thomas Chatterton, der zahlreiche Dokumente und Gedichte angeblich mittelalterlichen Ursprungs fabrizierte, bevor er aus Verzweiflung Selbstmord beging. (1) Thomas Chatterton wird 1752 in Bristol geboren. Sein Vater ist kurz vor der Geburt gestorben. Die Mutter schlägt sich als Näherin durch. Der etwas wunderliche Knabe zeigt schon mit zehn Jahren ein außergewöhnliches dichterisches Talent. Er träumt viel und liest alles, was ihm in die Hände fällt. Den Hauptgegenstand seiner Phantasien bilden aber bald alte Papiere, die 1727 in einer Kirche Bristols gefunden worden sind. Man hatte damals in einem Bodenraum der Kirche fünf alte Truhen aufgebrochen, weil man annahm, darin wichtige Schriftstücke zu finden. Besonders galt diese Erwartung einer Truhe aus der Hinterlassenschaft des Kaufherrn und Bürgermeisters William Canynges, der 1474 gestorben war. Als sich diese Hoffnungen nicht erfüllten, waren die Papiere achtlos ihrem Schicksal überlassen worden. Unter anderen hatte sich der Totengräber Chatterton aus den Truhen bedient. Von ihm, dem Großvater, waren die Schriftstücke in den Besitz des Vaters gelangt. Das starke Papier fand im Haushalt der Chattertons vielfältige Verwendung für Einbände, Zwirnkarten oder Kleiderschnitte. Es heißt, der junge Thomas habe anhand der zuhause herumliegenden Schriftstücke sogar das Lesen erlernt. Später benutzt er sie als Manuskriptpapier: Auf die freien Ränder kritzelt er erfundene Dokumente und Gedichte aus dem Mittelalter. Als er das Ergebnis seinem Lehrer vorlegt, kann dieser das Geschriebene zwar nicht entziffern, ist aber von der Echtheit der angeblichen mittelalterlichen Dokumente überzeugt. Nach der Schule beginnt Thomas Chatterton 1767 eine siebenjährige Lehre bei einem Advokaten. Dies bedeutet, daß er Mittagstisch und Schlafkammer mit den Bediensteten des Advokaten teilt und von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends in der Kanzlei sein muß. Dennoch hängt er weiter seinen Tagträumen nach. Er erfindet jetzt einen Priester namens Thomas Rowley, der um das Jahr 1460 in Bristol gelebt habe; einen fiktiven Namensvetter also, ein mittelalterliches alter ego. Diesen Thomas Rowley macht er zum engsten Freund jenes William Canynges, dessen Truhe seinerzeit in der Kirche geöffnet worden war. Mittels erdichteter Urkunden und Verse konstruiert Chatterton eine regel-

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Die Tagträume des Thomas Chatterton rechte Lebensgeschichte der beiden Gestalten, die er als überaus hochherzig und wohltätig darstellt. Rowley fällt dabei die Rolle eines Chronisten und Laureaten von Canynges zu, der alle bedeutenden Momente im Leben des Kaufmanns und Bürgermeisters verherrlicht und von diesem dafür fürstlich belohnt wird. Offenbar kompensiert Chatterton mit seinen Tagträumen die Armseligkeit seiner Existenz, die er als bedrückend empfindet. Die Schwärmerei fürs Mittelalter entspricht dem Zeitgeist. Dem "gothic revival" geht es auch weniger um eine Neuentdeckung des tatsächlichen Mittelalters als um die rückwärtsgewandte Verklärung einer Wunschzeit. Das Mittelalter dient als Projektionsfläche für die Konflikte und Sehnsüchte der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Wie kurz dabei der Weg vom Wunschdenken zur Fälschung ist, zeigt zur selben Zeit "Das Schloß von Otranto", das selbst ein so hochangesehener Mann wie Horace Walpole zunächst als Produkt eines vergangenen Jahrhunderts ausgab. Eine andere Fälschung, die damals Furore macht und erst Mitte des 19. Jahrhunderts entlarvt wird, sind die Papiere des „Mönchs von Cirencester“, die ein gewisser Charles Bertram 1747 dem bekannten Altertumsforscher William Stukeley andreht und die lange Zeit als äußerst wertvolle Quelle über das Britannien der Römerzeit gelten. So kann es sogar zur Fälschung innerhalb der Fälschung kommen: Chatterton läßt seinen erfundenen Priester Thomas Rowley unter anderem auch Papiere aus dem Besitz just jenes "Mönchs von Cirencester" entdecken, dessen angebliche Aufzeichnungen über die Römerzeit 1757 durch Stukeley veröffentlicht wurden und die deshalb in aller Munde sind. Doch ist es letzten Endes die leichtgläubige Mitwelt, welche die Tagträume des fünfzehnjährigen Knaben in Fälschungen verwandeln hilft. Ein wichtiges Ereignis bildet dabei die Einweihung einer neuen Brücke in Bristol, die eine alte Brücke aus dem 13. Jahrhundert ersetzt. Kurz nach der Eröffnungszeremonie im September 1768 übergibt Chatterton dem "Bristol Weekly Journal" eine Beschreibung des „Ersten Übergangs des Bürgermeisters über die alte Brücke“, die angeblich einem alten Manuskript entstammt. Der Knabe gibt sich dabei als Überbringer eines gewissen Dunelmus Bristoliensis aus. Das angebliche Dokument schildert in der farbenprächtigsten Weise die Eröffnung der Vorgänger-Brücke, den damaligen Zug von Priestern, Ratsherren und Wappenherolden, und wie der Bürgermeister auf weißem Pferd und mit einem goldenen Stab in der Hand vorangeritten sei. Chatterton erfindet innerhalb der Zeremonie sogar eine weitere Zeremonie, mit der einer angeblich noch älteren Vorgänger-Brücke aus Holz gedacht worden sei. Die Redaktion veröffentlicht den Text und streicht lediglich die lyrischen Einlagen. Das angebliche Dokument erregt Aufsehen. Auf nachdrückliches Befragen gibt Chatterton zu, selbst jener "Dunelmus Bristoliensis" zu sein. Zugleich behauptet er, es handele sich um die Kopie einer alten Handschrift, die er zuhause unter den Beständen aus der Kirchentruhe gefunden habe. Die erfundene Brücken-Einweihung hat auch ein wohlhabender Zinngießer namens George Symes Catcott gelesen. Sie schmeichelt seiner Eitelkeit, denn aus einem "Spleen" heraus ist er am 6. Juni 1768 auf eigens gelegten Brettern über die noch unfertige Brücke geritten, um sagen zu können, als erster das neue Bauwerk benutzt zu haben. Der Zinngießer

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Die Tagträume des Thomas Chatterton ist ein gutmütiger und ehrenhafter, aber ziemlich beschränkter und eitler Mensch. Da er einer Gelehrtenfamilie entstammt, hält er sich für verpflichtet, auch Interesse für Historie bekunden zu müssen. Dieser Catcott also läßt nun Chatterton zu sich kommen und äußert den Wunsch nach weiteren solchen mittelalterlichen Handschriften. Für Chatterton muß es verlockend sein, durch den gesellschaftlichen Kontakt mit dem wohlhabenden und angesehenen Bürger seine eigene ärmliche Existenz aufwerten und ihr vielleicht sogar entfliehen zu können. Jedenfalls liefert er Catcott zwei Wochen später eine 98 Verse umfassende „Tragödie von Bristow“ und andere angebliche alte Handschriften. In ähnlicher Weise bedient Chatterton andere Bürger der Bristoler Gesellschaft, die er in der Folge kennenlernt. Zu ihnen gehört der Wundarzt William Barrett, ein Bekannter Catcotts, der Material für eine Geschichte seiner Heimatstadt Bristol sammelt. Chatterton fabriziert speziell für den Heimatforscher zahlreiche Dokumente über Bauten der Stadt sowie eine vollständige „Beschreibung von Bristol“ aus dem 11. Jahrhundert, die ursprünglich ein Mönch namens Turgot verfaßt und der Priester Thomas Rowley im 15. Jahrhundert aus dem Angelsächsischen ins Englische übersetzt haben soll. Ebenso läßt er den Thomas Rowley ein von Turgot geschriebenes Gedicht über „Die Schlacht von Hastings“ übersetzen. Als Barrett das Original zu sehen wünscht, ist es Chatterton anscheinend leid, seinen Autorenstolz weiterhin zu verleugnen. Er gesteht Barrett, selbst der Urheber zu sein. Sein Gönner glaubt ihm jedoch kein Wort. Im unerschütterten Glauben an die Echtheit der Dokumente veröffentlicht Barrett im Frühjahr 1789 sein Werk über "Geschichte und Altertümer der Stadt Bristol", an dem er über dreißig Jahre lang gearbeitet hat. Zweifel kommen ihm erst, nachdem das Werk allenthalben Widerspruch und Heiterkeit auslöst. Barrett stirbt darauf im Herbst desselben Jahren - vermutlich infolge der erlittenen Enttäuschung. Wie sehr das "gothic revival" den Defiziten und Sehnsüchten der neuen bürgerlich-kapitalistischen Ära entspricht, zeigt auch der Fall von Catcotts Geschäftspartner Henry Burgum, dem Chatterton zu hochadeliger Abstammung verhilft. Den psychologischen Hintergrund bildet dabei, daß Burgum aus einfachen Verhältnissen stammt, die er als Makel empfindet, nachdem er es zu bürgerlichem Wohlstand gebracht hat. Man kann sich seine Freude vorstellen, als ihm Chatterton feierlich mitteilt, er sei mit den ersten Edelleuten des Landes verwandt. In den entsprechenden Dokumenten verleiht Chatterton sogar Burgums profanem Geschäft als Zinngießer die höhere Weihe, indem er bereits einen Vorfahren namens De Bergham unter Heinrich VI. Alchemie treiben und sich mit Metallen befassen läßt. Auch der Geistlichkeit ist Chatterton zu Diensten. Alexander Catcott, ein Bruder des Wundarztes, ist nämlich Vikar an der Templerkirche. Er hat 1761 ein Werk veröffentlicht, in dem er mit großem Aufwand an gelehrten Theorien und auf Grundlage einer rationalen Theologie den Beweis für Schöpfung und Sintflut erbrachte. Ein Rätsel bleibt dem Vikar dagegen der schiefe Turm seiner Templerkirche. Durch Chatterton erfährt er, das sich bereits der Priester Thomas Rowley mit diesem Problem beschäftigt und dessen Vorgeschichte zu Papier gebracht habe: Ein italienischer Baumeister habe bei Errichtung der Kirche im 13. Jahrhundert die Warnungen einheimischer Fachleute vor dem sumpfigen Gelände in den Wind geschlagen.

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Die Tagträume des Thomas Chatterton In diese Falsifikate gehen jedoch nicht nur die Sehnsüchte der Bristoler Bürger ein, sondern ebenso die ihres Urhebers. Es handelt sich um psychologische Vexierbilder, die je nachdem als Nostalgie oder Utopie verstanden werden können. Für das saturierte Bürgertum bietet die Scheinwelt des Mittelalters einen Ersatz für ideelle Werte, die in der Realität der kapitalistischen Gesellschaft keinen Platz mehr haben und die auch in der rationalen Theologie der anglikanischen Staatskirche nur noch ein Schattendasein führen. Die tonangebende Klasse kompensiert so ihre psychischen Defekte und Defizite. Für Chatterton sind diese Falsifikate dagegen eher ein Mittel, seinen kümmerlichen sozialen Verhältnissen zu entrinnen. Sie entspringen dem verzweifelten Bemühen, sich zumindest geistig über diese Verhältnisse zu erheben, womöglich aber auch seinen dichterischen Genius materiell anerkannt zu sehen. Mit Thomas Rowley und William Canynges erdichtet sich Chatterton die hochherzigen, edelmütigen und freigebigen Gestalten, welche die Gegenwart vermissen läßt. Es ist sicher kein Zufall, daß sein William Canynges den Laureaten Thomas Rowley immer wieder reichlich mit Lob und Geld bedenkt. Allein für die Übersetzung der "Schlacht von Hastings" darf Rowley zwanzig Pfund in Empfang nehmen - im Gegensatz zu den eher kümmerlichen Entlohnungen, die der reale Urheber Chatterton von seinen Gönnern aus der Bristoler Bourgeoisie empfängt. Zum Beispiel läßt sich Burgum den Nachweis seiner adeligen Abstammung ganze fünf Shilling kosten. Eine weitere Krone rückt er erst heraus, nachdem ihm Chatterton den Stammbaum nochmals erweitert hat...

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Arm und reich im Parnaß

Arm und reich im Parnaß Wie Chatterton von Walpole enttäuscht wurde und sich das Leben nahm Die Geschichte des dichtenden Knaben Chatterton und wie er die Bürger der Stadt Bristol narrte, ist nicht bloß eine skurrile Begebenheit des 18. Jahrhunderts. Sie enthält und enthüllt "in nuce" bereits Gesetze des modernen Zeitgeistes und seiner Vermarktung. Sie ist ein frühes Paradigma für die dubiosen Seiten des Literatur- und Wissenschaftsbetriebs. Sie macht verständlich, weshalb ein Zeitgenosse, auf den wir gleich noch zu sprechen kommen, nämlich der Schotte Macpherson, die grandioseste Literaturfälschung des Jahrhunderts lancieren konnte. Angesichts der Knausrigkeit seiner Gönner in Bristol richtet Chatterton den Blick erwartungsvoll auf einen Mann, der weithin als feinsinniger Freund der Kunst und Kenner des Altertums bekannt ist, nämlich den bereits erwähnten Horace Walpole. Möglicherweise gibt er sich dabei der Hoffnung hin, daß Walpole als Experte die vorgelegten Texte ebenso als Fälschungen erkennen wie auf das dichterische Genie des wahren Urhebers aufmerksam werden würde. Jedenfalls schickt er Walpole am 25. März 1769 eine Auswahl seiner Werke. Dieser erkennt die Fälschungen aber keineswegs. Er dankt vielmehr postwendend schon am 28. März und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, daß Chatterton es ihm gestatten werde, künftig seinen sachverständigen Rat einzuholen. Chatterton schickt daraufhin sofort eine zweite Auswahl. Unter anderen enthält sie eine „Geschichte der Malerei in England“ aus der Feder des fiktiven Priesters Thomas Rowley. Auch jetzt wird der Kunstkenner Walpole, dessen besondere Passion die englische Malerei ist, nicht stutzig. Er antwortet vielmehr wieder sofort und erbittet sich nähere Angaben über die Werke des Thomas Rowley. Nun macht der sechzehnjährige Knabe einen verhängnisvollen Fehler: Überwältigt von soviel freundlichem Entgegenkommen schüttet er Walpole sein Herz aus. Er schreibt ihm, daß er der Sohn einer armen Witwe sei und bei einem Advokaten in die Lehre gehe. Zugleich bittet er Walpole, ihm bei der Entfaltung seines Talents und Überwindung seiner mißlichen Existenz behilflich zu sein. Für Walpole ist damit klar, daß er es nicht, wie angenommen, mit einem Gelehrten, sondern mit einem Minderjährigen aus ärmlichen Verhältnissen zu tun hat. Er übergibt das übersandte Material den Dichtern Gray und Mason, seinen Freunden, welche die angeblichen alten Gedichte auf Anhieb für gefälscht erklären. Walpole teilt Chatterton dieses Ergebnis mit und gibt ihm den Rat, sich erst einmal ein Vermögen zu erwerben, um seinen künstlerischen Neigungen nachgehen zu können. Chatterton antwortet auf diesen niederschmetternden Bescheid zunächst in ruhigem, bescheidenem Ton und gibt sich als bloßer Übermittler der Falsifikate aus. Zwischen den Zeilen klingt allerdings der bittere Vorwurf, daß Walpole den poetischen Wert des Materi-

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Arm und reich im Parnaß als nicht erkannt habe. Es klingt wie ein Hilferuf, wenn er damit droht, die Texte zu vernichten: „Obzwar ich erst sechszehn Jahre alt bin, habe ich doch lange genug gelebt, um zu erkennen, daß Armut die Gefährtin der Literatur ist. Ich danke Ihnen, geehrter Herr, für Ihren Rat und will noch ein wenig darüber hinausgehen, indem ich meinen ganzen unnützen literarischen Kram vernichte und meine Feder hinfort ausschließlich in juristischen Dingen gebrauche.“ Gemeinsam mit seinem Gönner Barrett, der weiterhin von der Echtheit der Schriften überzeugt ist, entwirft Chatterton dann einen weiteren Brief an Walpole, in dem er die Rückgabe der Rowley-Gedichte verlangt: „Mr. Barrett, ein tüchtiger Altertumsforscher, der jetzt die Geschichte der Stadt Bristol schreibt, hat sie von mir verlangt, und es täte mir leid, ihn oder die Welt dieser wertvollen Kuriosität zu berauben, in der er ein authentisches Denkmal des Altertums erkannt hat.“ Der düpierte Walpole, offenbar verärgert, von einem armen Jungen aus Bristol derart hinters Licht geführt worden zu sein, antwortet jedoch nicht. Chatterton gibt daraufhin seinem Unwillen und seiner Gekränktheit unverhüllten Ausdruck. Am 4. August packt Walpole alles überlassene Material zusammen und schickt es Chatterton kommentarlos zurück. Walpole ahnt nicht, daß er nur zehn Jahre später sein Verhalten zu rechtfertigen haben wird - gegenüber einer literarischen Öffentlichkeit, die Thomas Chattertons phantastische Schriften inzwischen tatsächlich als Erzeugnisse eine einmaligen Genius erkannt hat. Walpole muß sich sogar den Vorwurf gefallen lassen, den genialen Knaben durch seine Abweisung in den Tod getrieben zu haben. Chatterton überspielt die erlittene Kränkung zunächst. In einem Brief an seinen Vetter Stephens in Salisbury prahlt er noch immer mit seiner Beziehung zu Walpole und tut so, als hätten sich zwei Fachleute entzweit, weil sie sich wegen des mutmaßlichen Alters eines Manuskriptes nicht einigen konnten: „Vielleicht fechten wir es öffentlich in einer Zeitschrift aus, obzwar ich nicht weiß, wer den Angriff eröffnen wird.“ Insgeheim gibt er jedoch seiner wahren Stimmung in einem Schmähgedicht An Horace Walpole Ausdruck: Walpole! Nie glaubt‘ ein Herz ich zu erspähen, So niedrig, wie ich deines nun gesehen! Du, den nur Glück und Wohlsein stets umgaben, Verschmähst den freund- und vaterlosen Knaben, Der zu dir rief. Betrüger nennst du mich? Wer schrieb "Otranto"? Doch ich will nicht schelten, Verachtung mit Verachtung nur vergelten. Fahr fort, Kapitel wortereich zu dehnen, Geschwätzige Briefe schreibe einer Schönen, Die Hohen preise, schmeichle nur voll List, Wo Freundschaft nützlicher als Feindschaft ist, Verschmähë den unbedachten Toren, der -

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Arm und reich im Parnaß --------------- --Wärë ich nur reich, Geringen nicht entstammt, Du hättest nicht gewagt, mich so zu schmähen! Allein ich werde neben Rowley stehen Und leben, wenn du tot bist und verdammt! Diese Verse klingen wie eine Verfluchung Walpoles. Chatterton verflucht zugleich sein eigenes Schicksal, das ihn nicht mit "Glück und Wohlsein stets umgeben" hat. Er erkennt, daß auch im Parnaß, den er für eine klassenlose Gesellschaft gleichgesinnter, erhabener Geister gehalten hat, durchaus soziale Unterschiede herrschen. Und in einer Trotzreaktion beschließt er, sich erst recht zu Rowley zu bekennen, diesem fiktiven Priester aus dem 15. Jahrhundert, in dessen Texte er all das hineingelegt hat, was der Gegenwart abgeht. Chatterton verbringt nach dieser Enttäuschung noch ein Jahr in Bristol. Die Aussicht, noch weitere vier Jahre in der Lehre bei dem Advokaten aushalten zu müssen, wird ihm aber immer mehr zur unerträglichen Belastung. Da er bei Bruch des Lehrvertrags straffällig würde, greift er zu einem Trick: Er spielt dem Advokaten ein fingiertes Testament in die Hände und wird als potentieller Selbstmörder sofort entlassen. Am 24. April 1770 schwingt sich Chatterton mit fünf Pfund und einem Bündel Manuskripte in der Tasche auf die Postkutsche nach London. Der 17jährige ist mit verzweifelter Inbrunst entschlossen und überzeugt, in der Hauptstadt endlich sein Glück zu machen; wenn nicht mit Rowley-Gedichten, so doch mit Gelegenheitsarbeiten. Er glaubt inzwischen zu wissen, nach welchen Gesetzen Literatur Erfolg hat. In einem Brief an seine Mutter vom 6. Mai 1770 schreibt er: „Kein Schriftsteller kann arm sein, der die Kunst des Buchhändlers versteht. Ohne diese notwendige Kenntnis kann das größte Genie verhungern, und mit ihr lebt der größte Dummkopf in Pracht. In diese Kenntnis bin ich ziemlich tief eingedrungen.“ Die Blasiertheit des 17jährigen ist jedoch mehr Attitüde. Er pflegt einen demonstrativen Zynismus, gegen den sein Herz opponiert. Wenn er etwa in dem Gedicht Die Kunst der Reklame ("The Art of Puffing") die jungen Autoren lehrt, den Gewinn als das höchste Ideal zu betrachten, so ist dies weniger eine Anleitung zum Opportunismus als ein Protest gegen das herrschende gesellschaftliche System. Auch für sich selbst vermag er aus der Einsicht, daß geistige Produkte nur als Ware zu reüssieren vermögen, wenig praktischen Nutzen zu ziehen. Chatterton gleicht eher dem Julien Sorel aus Stendhals "Rot und Schwarz", der trotz aller Kompromisse die "rote" Seite seines Wesens nicht verleugnen kann. So ist es wohl auch kein Zufall, daß er sich auf seiten der Whigs in die tagespolitische Auseinandersetzung stürzt. Von den zahlreichen Manuskripten, die er in die Redaktionen trägt, bleiben jedoch die meisten liegen. Zwei liberale Redakteure, auf die er gesetzt hat, werden in Haft genommen. Seine Geldnöte werden immer schlimmer. Er nagt am Hungertuch, während er in seinen Briefen an die Mutter den Eindruck erweckt, er befände sich unablässig auf dem Weg nach oben. Da winkt ihm plötzlich doch die Chance, als Laureat des Londoner Bürgermeisters William Beckford in die Reihe der anerkannten Schriftsteller vorzustoßen. Aber Beckford stirbt überraschend, ehe der Durchbruch erfolgen kann. Vier Wochen später, am 24. August 1770, vergiftet sich Chatterton mit Arsenik, stirbt einen qualvollen Tod und wird in einem Armengrab beigesetzt.

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Ein Barde namens Ossian

Ein Barde namens Ossian Wie eine nostalgische Fälschung die gebildete Welt begeisterte Im Gegensatz zu dem unglückseligen Thomas Chatterton brachte es ein anderer Fälscher zu Ruhm und Reichtum. Der Schotte James Macpherson (1736 - 1796) schwamm ebenfalls auf der Woge des „gothic revival“. Er griff mit seinem „Ossian“ jedoch noch über das Mittelalter der Burgen, Ritter und Mönche hinaus, indem er Gestalten aus grauer, keltischer Vorzeit erfand. Auch er verband mit seinen Fälschungen dichterischen Ehrgeiz. Auch ihm wurde der Betrug von einer nostalgiesüchtigen Mitwelt sehr leicht gemacht, ja nahegelegt. Im Unterschied zu dem armen Knaben aus Bristol war er aber älter, geschickter, vorsichtiger und skrupelloser. Er gesellte sich nicht zu den Whigs, sondern zu den Tories. Er wurde auch nicht in einem Armengrab verscharrt, sondern erhielt ein Staatsbegräbnis in der Westminster-Abbey, nahe dem "Dichterwinkel". Vor allem aber düpierte er mit seinen Erfindungen nicht bloß die Bildungsphilister einer Stadt wie Bristol, sondern die gesamte gebildete Welt der damaligen Zeit. (1) Macpershons Ossian war ein literarisches Jahrhundertereignis. So hat Goethe ganze Passagen in seine „Leiden des jungen Werther“ übernommen und für den ersten Nachdruck in Deutschland eigenhändig das Titelblatt radiert. Herder ließ sich noch auf dem Totenbett aus dem Ossian vorlesen. Die Begeisterung reichte von Klopstock über Lessing und Schiller bis zu Tieck. In Frankreich pries Madame de Stael den Ossian als „Homer des Nordens“, für Napoleon war er sozusagen der Barde seiner Herrschaft und auch USPräsident Jefferson kannte ihn gründlich. Kritische Stimmen gab es noch am ehesten in England, wo der politisch-soziale Hintergrund dieser Fälschung immer präsenter war als anderswo. Eine Betrügerei braucht nur groß genug sein, um respektabel zu werden. Die Ergriffenheit und Begeisterung, mit der die Gebildeten aller Stände und Länder der Stimme des vermeintlichen Barden Ossian lauschten, verwandelte sich deshalb keineswegs in Nachdenklichkeit und Beschämung, nachdem der Betrug offenbar geworden war. Besonders in Deutschland wurde zäh an der Legende festgehalten, daß Macpherson die OssianGedichte im schottischen Hochland gesammelt, aus dem Gälischen ins Englische übersetzt und allenfalls dichterisch etwas bearbeitet habe. Zumindest wollte man nun dasselbe poetische Genie, das man zunächst dem angeblichen keltischen Barden zuschrieb, dessen Urheber Macpherson zuerkannt wissen. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der Eindruck erweckt, die OssianGedichte seien tatsächlich alter keltischer Überlieferung entsprungen. Der Vorwurf, es handele sich um Fälschungen, wird als bloße „Behauptung“ relativiert. Nach der hier ge-

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Ein Barde namens Ossian botenen Darstellung „sprach Macpherson seine Verachtung solcher Afterkritik aus, trat aber nicht öffentlich dagegen auf, weil es ihm schmeichelte, daß die Welt ihm ein solches Dichtergenie zutraute“. Aus heutiger Sicht ist die Begeisterung, die der Ossian erregte, nur noch schwer verständlich. Die Verse sind in schwülstig-romantischer Manier geschrieben. Sie beschwören am laufenden Band irgendwelches Schlachtengetümmel vor nebelverhangener Landschaft. Die Geschehnisse, von denen der Barde berichtet, sind in der Regel ziemlich konfus und von einer ermüdenden Monotonie. Den Personen fehlt jegliche Individualität. Die meisten gehören ohnehin zur namenlosen Masse der Krieger. Aber auch die Protagonisten wie Fingal, Oskar oder Cathmor sind eher Charaktermasken als Menschen. Sie haben ihr Menschsein zugunsten eines permanenten Heldendaseins aufgegeben. Ihr Leben besteht nur aus erhabenen Gefühlen, Leidenschaft, Tugend, Ehre, Schlachten, großen Taten. Sie agieren so, wie sich das "gothic revival" das Mittelalter vorstellte. Die Kelten ersetzen dabei die Ritter und melancholische Landschaften die zinnnenbewehrten Burgen. (2) Die Faszination, die von dieser merkwürdigen Mischung lange Zeit ausging, läßt sich noch am ehesten verstehen, wenn man sie mit einer Wagner-Oper vergleicht: Hier wie dort wird die Psychologie und damit die Individualität der Menschen negiert. An ihre Stelle treten geheimnisvolle Mächte, die schicksalhaft alles Geschehen bestimmen. In der Tat müssen die melancholischen Gesänge des Ossian wie psychedelische Musik gewirkt haben. Gerade ihre Monotonie, das "Wigalaweia" des Schlachtenlärms, das Schemenhafte der Figuren und die nebelhafte Entrücktheit der Landschaft scheinen ihren besonderen Reiz ausgemacht zu haben. Friedrich Schlegel hat den eigenartigen Reiz des Ossian, den er ins Deutsche übersetzte, so empfunden: „Seine Gestalten sind Nebelgestalten und sollen es sein. Aus dem leisen Hauch der Empfindung sind sie geschaffen, und schlüpfen wie Lüfte vorüber. So erscheinen nicht nur jene in Wolken wohnenden Geister, durch welche die Sterne durchschimmern; auch die Gestalten seiner Geliebten deutet Ossian mehr an, als daß er sie darstellte und malte. Man hört ihren Tritt oder ihre Stimme; man sieht den Schimmer ihrer Arme, ihres Antlitzes, wie einen vorübergleitenden Strahl. Ihr Haar fliegt sanft im Winde, so schlüpfen sie her, so vorüber. Gleichergestalt malt er seine Helden, nicht wie sie sind, sondern wie sie sich nahen, wie sie erscheinen und verschwinden. Es ist eine Geisterwelt im Ossian, statt daß in Homer eine leibhafte Körperwelt sich bewegt.“ (3) Die wichtigste Bedingung, damit diese Mixtur solchen Anklang finden konnte, war aber zweifellos der Glaube, es handele sich tatsächlich um eine Überlieferung aus keltischer Zeit. Ohne diese psychologische Prämisse hätten Macphersons angebliche Bardengesänge vermutlich schon damals so lächerlich gewirkt wie die Homer-Übersetzung, an der er sich später versucht hat, und die in der allgemeinen Heiterkeit über den „Homer im Schottenrock“ unterging.

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Ein Barde namens Ossian Sobald man aber der Versicherung Macphersons glaubte, er sei lediglich der Übersetzer von uralten gälischen Texten und habe diese wortwörtlich ins Englische übertragen, mußte sich der Ossian wie eine Offenbarung lesen: Hier fand der Zeitgenosse genau jene Melancholie, jene Nostalgie und jenen Weltschmerz, die sich soeben des ausgehenden 18. Jahrhunderts bemächtigten; und das bei einem keltischen Barden, der nachweislich schon vor eineinhalb Jahrtausenden gelebt hatte. Man entdeckte so eine „Naturpoesie“, welche die schmeichelhafteste Bestätigung des eigenen Seelenzustands bot.

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Die „Fragments“

Die „Fragments“ Wie der erfolglose Dichter Macpherson zum Fälschen verleitet und auf Expeditionsreise in die Highlands geschickt wurde Die Rudimente schottischer Legenden, die Macpherson hier und da tatsächlich verwendet hat, spielten beim Erfolg seiner angeblichen Barden-Gesänge die geringste Rolle. Viel wichtiger waren die sozialen, politischen und ideologischen Konstellationen seiner Zeit, die aus einem ehrgeizigen jungen Dichter, dessen Verse so gut wie unbeachtet blieben, den größten und erfolgreichsten Fälscher der Literaturgeschichte machten. Macpherson war der Sohn eines Kleinpächters aus den schottischen Highlands und entstammte dem Clan der Macphersons. Im Alter von neun Jahren war er Zeuge des letzten Aufstands der Schotten gegen die englische Krone geworden. Die schottischen Clans hatten sich bis dahin in den öden, unzugänglichen Highlands weitgehend behaupten können. Aufgrund ihrer archaischen Stammesverfassung und katholischen Religion waren sie geborene Anhänger der Stuarts, während in den schottischen "Lowlands" schon damals die englische Wirtschafts- und Geistesverfassung dominierte. So fiel es 1745 dem Stuart-Prinzen Charles Edward nicht schwer, die Mehrzahl der Clans zum Marsch nach Süden zu entflammen, um den Stuarts den englischen Thron und sich selbst die nationale Eigenständigkeit zurückzuholen. Die Highlander gelangten bis nach Derby, nur 130 Meilen von London entfernt, wurden dann aber von englischen Truppen zurückgedrängt und in der Schlacht von Culloden (1746) erbarmungslos niedergemetzelt. Mit brutaler Härte zerschlugen die Engländer auch die alten Clan-Strukturen, verboten das Tragen von Waffen, der Highlander-Tracht und sogar des Dudelsacks. So sah der zeitgeschichtliche Hintergrund aus, vor dem James Macpherson aufwuchs. Er strebte zunächst die Laufbahn eines presbyterianischen Geistlichen an, verließ dann aber die Universität Edinburgh, um Schulmeister in seiner Heimat zu werden. Dort verfaßte er im Alter von zwanzig Jahren seine ersten Gedichte. Sie hießen „Der Tod“, „Der Jäger“ oder „Der Highlander“ und bewegten sich im Rahmen des damals üblichen klassischen Stils. Dem neu erwachten Naturgefühl huldigte der Dichter, indem er der Landschaft, besonders der nächtlichen, breiten Raum gab. Hinzu spielen Kampfszenen eine große Rolle. So behandelt "Der Highlander", der 1758 als Gedicht in sechs Versen in Edinburgh erschien, die Invasion Schottlands durch die Dänen im 11. Jahrhundert. In den Jahren 1758 und 1759 druckte "The Scots Magazine" weitere Gedichte von ihm. Im großen und ganzen war Macperhson als Poet jedoch ziemlich erfolglos. Er blieb, wie der OssianExperte Paul van Tieghem schreibt, „ein kleiner Dichter von äußerst schwacher Begabung, und außerhalb des engen Kreises einiger Schöngeister Aberdeens völlig unbekannt“.

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Die „Fragments“ Das begann sich zu ändern, als Macpherson 1758 wieder nach Edinburgh zog, um dort eine Stelle als Erzieher bei der Familie Graham anzutreten. In den wirtschaftlich und geistig arrivierten Kreisen der schottischen Hauptstadt begegnete er der neuen Empfindsamkeit für das Natürliche und die Glorie vergangener Zeiten. Als Sohn der Highlands mußte er im Tiefland bereits leicht exotisch wirken. Mit Gälisch als Muttersprache empfahl er sich den nur englisch sprechenden Literaten Edinburghs als Auskunftsquelle über Bräuche und Legenden der Hochlande. Hinzu kam wohl, daß deren Empfindsamkeit calvinistisch geprägt war: Die sinnesfeindliche, puritanische Haltung der Tiefland-Schotten mochte sich nicht so leicht den Verlockungen der Phantasie hinzugeben. Sie verlangte nach einer ähnlich soliden Grundlage wie der Bibel, auf die John Knox seine Reformation und das schottische Erziehungssystem gegründet hatte. Das feste Vertrauen in den Wortlaut der Heiligen Schrift war inzwischen unter dem Einfluß der Aufklärung abhanden gekommen. Um so näher lag es, in der eigenen geschichtlichen Vergangenheit nach Texten zu suchen, an denen sich die neue Empfindsamkeit und das schottische Nationalbewußtsein aufrichten konnte. Den vorläufig wichtigsten Anstoß erhielt Macpherson im Herbst 1759, als er sich mit der Familie Graham in der Stadt Moffat aufhielt und dort dem Dichter John Home begegnete. Der arrivierte Literat befragte ihn über die Sitten und Nationalpoesie der Hochländer. Es muß für Macpherson sehr schmeichelhaft gewesen sein, vom "schottischen Shakespeare" derartige Aufmerksamkeit gewidmet zu bekommen. Jedenfalls gab er vor, über einige Verse der schottischen Nationalpoesie im gälischen Urtext zu verfügen. Da Home kein Gälisch konnte, mußte ihm Macpherson diese angeblichen Texte ins Englische übersetzen. Er tat dies anscheinend nur sehr widerstrebend. Home blieb jedoch hartnäckig und drängte auf die Übersetzung weiterer Texte. Macpherson zog sich darauf zurück und brachte nach zwei oder drei Tagen tatsächlich weitere Verse herbei. Das Hauptstück hieß „Oskars Tod“ und besang einen keltischen Helden aus dem irisch-schottischen Sagenkreis, in dessen Mittelpunkt die legendäre Gestalt des kriegerischen „Finn“ oder „Fingal“ steht. Home war von Macphersons "Übersetzungen" fasziniert. Nicht anders erging es seinen gebildeten Freunden, denen er die Verse nach der Rückkehr in Edingburgh zeigte. Vor allem fesselten sie den Dr. Hugh Blair, einen Prediger und Professor für Rhetorik und Literatur, der als der Literaturpapst des Nordens galt. Nun war es dieser Blair, der Macpherson zu weiteren Übersetzungen drängte. Macpherson sträubte sich zuerst wieder gegen das Ansinnen. Schließlich war es eine sehr anstrengende Tätigkeit, aus den nur grob strukturierten Legenden, die ihm und vielen anderen aus der mündlichen Überlieferung bekannt waren, kunstvolle Verse zu schmieden. Hinzu kam, daß dabei für ihn als bloßen "Übersetzer" kein sonderlicher Ruhm abfiel. Da er aber die anfängliche Schwindelei nicht eingestehen wollte, mußte er wohl oder übel auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen, um sich die Geneigtheit der Edinburgher Gesellschaft zu erhalten. Macpherson machte sich also erneut an die Arbeit und lieferte weitere "Übersetzungen" aus dem Gälischen, bis ein Bändchen mit „Fragments of Ancient Poetry“ zustande kam, das im Juni 1760 in Edinburgh veröffentlicht wurde. Der Untertitel - „collected in the Highlands of Scotland and translated from the galic or erse language“ - wies die angeblich in den schottischen Highlands gesammelten Gedichtfragmente als Übersetzungen aus dem Gälischen bzw. "Ersischen" aus.

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Die „Fragments“ Die spätere Prüfung hat ergeben, daß von den 16 Stücken dieser "Fragments" nur zwei auf tatsächlich überlieferten Balladen beruhten. Die übrigen waren mehr oder weniger frei erfunden. Auf Anraten seiner Gönner goß Macpherson die "Übersetzungen" nicht in Reime, sondern in eine rhythmische Prosa. Diese stilistische Innovation dürfte einer der Gründe gewesen sein, weshalb die "Fragments" solchen Erfolg hatten. Sogar Horace Walpole, die anerkannte Autorität in Sachen Altertum, zeigte sich zunächst von der Echtheit der Texte überzeugt. Er verglich die "Fragments" mit der Dichtung Homers, und auch sein Freund Thomas Gray pries sie als Verse von „unendlicher Schönheit“. Die entscheidende Rolle für die begeisterte Aufnahme der "Fragments" spielte aber sicher ihre behauptete Authentizität, die durch ein gelehrtes Vorwort des Dr. Blair noch unterstrichen wurde: „Die Übersetzung ist extrem wortgetreu“, versicherte er, „sogar die Wortstellung des Originals ist nachgeahmt worden“. Blair äußerte in seinem Vorwort die Vermutung, daß die hier veröffentlichten Fragmente nur Teil eines größeren Fingal-Epos oder gar zweier Epen seien. Wenn es gelinge, die übrigen Teile ausfindig zu machen, könne damit sicherlich ein wertvoller Beitrag zur Erhellung der schottisch-irischen Frühgeschichte geleistet werden. Damit, wie auch schon in dem Titel "Fragments", war die Fortführung der Fälschung bereits angekündigt. Blair war offenbar überzeugt, mit Hilfe Macphersons ein schottisches Nationalepos ausfindig machen zu können, vergleichbar dem Nibelungenlied, das soeben neu entdeckt worden war, oder der noch älteren Edda. Da dabei der Wunsch der Vater des Gedankens war, spielte die Echtheit nur eine untergeordnete Rolle. Jedenfalls scheint es Blair und die anderen Gönner nicht irritiert zu haben, daß Macpherson kein einziges seiner angeblichen Original vorgelegt hatte. Macpherson wollte sich dem Ansinnen, nach weiteren Teilen des Epos zu forschen, auch jetzt wieder entziehen. Immerhin gab es schon erste kritische Stimmen, die an der Echtheit der "Fragments" zweifelten. Hinter dem Rücken Blairs soll sich Macpherson sogar selbst über dessen „romantic ideas“ lustig gemacht haben. Zwei Monate lang widerstand er dem Drängen seines Mentors. Vergeblich redeten ihm auch andere zu. Schließlich setzte ihn Blair massiv unter Druck: Er veranstaltete ein Festessen, zu dem er die ganze literarische Gesellschaft Edinburghs einschließlich Macphersons einlud. Unter massivem Drängen und Zureden von allen Seiten erklärte sich Macpherson schließlich bereit, eine Expedition in die Highlands zu unternehmen, um dort nach weiteren Fragmenten zu suchen. Um die Kosten der Expedition zu decken, hatte die noble Gesellschaft Edinburghs bereits eine Suskription veranstaltet, die hundert Pfund erbrachte. Am 1. September 1760 brach Macpherson auf. Er durchstreifte auch tatsächlich den Nordwesten und Westen der Highlands. Er befragte Personen, von denen es hieß, daß sie alte Handschriften besäßen oder mündliche Überlieferungen kennen würden. Das, was er suchte, war aber offenbar nicht dabei. Nach einem Aufenthalt in seinem Heimatdorf in den Highlands unternahm er noch eine zweite Rundreise, die kein besseres Ergebnis erbrachte, und kehrte Anfang 1761 nach Edinburgh zurück.

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„Fingal“ und „Temora“

„Fingal“ und „Temora“ Wie Macpherson den Betrug fortsetzte und mit "wissenschaftlichem" Begleitapparat versah Da die Expedition in die Highlands erfolglos verlief, dürfte Macpherson die Rückkehr nach Edinburgh ziemlich peinlich gewesen sein. Um vor seinen Gönnern nicht mit leeren Händen dazustehen, scheint er schon während der Expedition angefangen zu haben, das erwünschte „Fingal“-Epos selbst zu schreiben. Schon im Frühling 1761 begab er sich jedenfalls nach London, um dort die Drucklegung der angeblich in den Highlands gesammelten und ins Englische übersetzten gälischen Dokumente zu überwachen. Das Werk erschien dann Ende des Jahres in prachtvoller Ausstattung. Die Haupt- und Rahmenfigur im „Fingal“ bildet Ossian, der bereits in den „Fragments“ auftaucht. Dieser Ossian ist ein alt und blind gewordener Barde, der als einziger den Heldentod seines Vaters Fingal und dessen legendärer Schar überlebt hat. Geführt von Malvina, der jungen Witwe des gefallenen Oskar, besingt er die Kämpfe und Taten vergangener Zeiten. Zur melodramatischen Figur Ossians passen die nebelverhangene, heroische Landschaft und der wehmütige Ton seiner Lieder, die Macpherson natürlich nicht der keltischen Vorzeit, sondern dem Zeitgeist der Gegenwart abgelauscht hatte. Aber gerade deshalb wirkten sie auf die Zeitgenossen überzeugend: Genau so großartig, tugendhaft und erhaben hatten sie sich die Vergangenheit vorgestellt. Ein Kupferstich auf dem Titelblatt des Fingal von 1761 zeigt den blinden Barden, wie er als letzter seines Geschlechts die Taten der gefallenen Helden besingt. Neben ihm steht Malvina, seine Führerin, mit dekorativ entblößter Brust, während sich in den Wolken die toten Helden versammeln, um dem Barden ihres Ruhmes zu lauschen. Auf das sechs Bücher umfassende Hauptepos folgen kürzere Gedichte wie „Comala“, „The Battle of Lora“, „Carthon“, „Darthula“, „The Songs of Selma“ und „Berrathon“. Am Anfang des Buches stellte sich Macpherson wieder als "Übersetzer" vor. Mögliche Zweifel an der Echtheit der Verse entkräftete er sogleich, indem er eine weitere Legende auftischte: einige Persönlichkeiten seines Freundeskreises hätten ihm geraten, die Original-Manuskripte ebenfalls zu drucken und zu diesen Zweck eine Subskription zu veranstalten. Dies habe er auch getan, aber leider habe sich kein Subskribent gefunden. Er betrachte dies als „Urteil der Öffentlichkeit“ und schließe daraus, daß die Original-Dokumente weder gedruckt noch zur Einsicht in einer öffentlichen Bibliothek ausgelegt werden müßten. Gleichwohl habe er grundsätzlich die Absicht, die Originale zu veröffentlichen, „sobald der Übersetzer die Zeit hat, um sie für den Druck umzuschreiben“. Falls es nicht zur Publikation komme, werde er zumindest Kopien der Originale in einer der öffentlichen Bibliotheken deponieren, um zu verhindern, daß dieses alte Zeugnis dichterischen Genies verlorengehe.

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„Fingal“ und „Temora“ In einem anschließenden „Vorwort“ führte Macpherson in die Akteure, Handlungen und historischen Hintergründe des Fingal-Epos ein, damit sich der Leser in den einzelnen Versen besser zurechtfinden könne. Er behauptete, daß dem Epos fast alle Züge einer Fabel fehlten, so daß es auch als historisches Dokument dienen könne. Ferner wies er die Ansicht der Iren zurück, daß Fingal ein Sohn ihres Landes und nicht des schottischen „Kaledonien“ gewesen sei. Die Unhaltbarkeit dieser These gehe schon daraus hervor, daß Ossian in der irischen Überlieferung vom irischen Nationalheiligen St. Patrick getauft werde oder von Kreuzzügen spreche. Tatsächlich aber hätten Fingal und seine Mannen lange vor der Einführung des Christentums gelebt. Als dritte einleitende Zutat folgte, aus der Feder des Dr. Blair, eine äußerst gelehrsame „Dissertation concerning the antiquity etc. of the poems of Ossian the son of Fingal“. Zum Beispiel verwies Blair mit philologischer Akribie darauf, daß jener Gegner Fingals, der im gälischen Original-Manuskript als Caracul bezeichnet werde, kein anderer als der römische Kaiser Caracalla sei. Die gesellschaftliche Verfassung der alten „Kaledonier “ schilderte er als „eine Mischung aus Aristokratie und Monarchie“. Zu Beginn des zweiten Jahrhunderts seien die Druiden, die führende Priesterkaste der Kelten, im Kampf mit den Königen unterlegen. Die Barden seien ursprünglich ein niederer Rang der Druiden gewesen, jedoch von den siegreichen Königen geschont worden, da diese den Nutzen des Bardengesangs zur Stärkung ihrer Macht und Sicherung des Nachruhms erkannt hätten. Der Machtverfall der Druiden erkläre auch die Abwesenheit aller heidnisch-religiösen Momente in diesen Dichtungen. Ossian habe offenbar an der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert gelebt. Dies erkläre wiederum die Abwesenheit aller Hinweise auf die christliche Religion. In Kaledonien, wie die Römer Schottland nannten, habe es damals nur ganz vereinzelt Anhänger der neuen christlichen Religion gegeben, die vor der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian geflohen seien. Ossian habe, wie eines der Fragmente bezeuge, erst im hohen Alter einen solchen christlichen „Culdee“ getroffen, der sich über den römischen Limes nach Schottland gerettet habe, um in der früheren Höhle eines Druiden sein Leben zu fristen. Mit gelehrsamer Bravour meisterte Dr. Blair auch die naheliegende Frage, wie das FingalEpos über so viele Jahrhunderte überliefert worden sein könne: Jeder Clan-Häuptling dieser Kelten, die schließlich zu den schottischen Highlanders wurden, habe sich einen Hausbarden gehalten. Diese Barden, deren Amt schließlich erblich geworden sei, hätten zu festlichen Anlässen vor dem versammelten Clan immer wieder dieselben Geschichten aus der Familiensaga vorgetragen und ihren Nachfolgern wortgetreu überliefert. Dabei sei ihnen die keltische Sprache behilflich gewesen. Alle diese Verse seien nämlich so miteinander verknüpft und durch die Eigenart des Gälischen derart einprägsam gewesen, daß beim wiederholten Vortragen kaum ein Wort durch ein anderes habe ersetzt werden können. Die angeblichen Original-Übersetzungen, die nun folgten, hatte Macpherson mit zahlreichen Fußnoten versehen. Darin wurden, mit der scheinbaren Akribie des Historikers und Philologen, weitere gelehrsame Erläuterungen gegeben und einzelne Textstellen thematisch verwandten Passagen bei Homer, Milton und anderen Dichtern gegenübergestellt. So war es scheinbar dem kritischen Blick des Übersetzers nicht entgangen, daß an einer

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„Fingal“ und „Temora“ Stelle der Ausdruck „strong spirit of heaven“ auftaucht. Dies sei, teilte er dem Leser mit, aber auch die einzige Stelle, wo ein religiöses Moment anklinge. Im übrigen müsse es offen bleiben, ob damit tatsächlich „ein höheres Wesen oder die Geister der verstorbenen Krieger“ gemeint seien. Der Inhalt aller Gedichte war für heutige Begriffe von einer ermüdenden Monotonie, Umständlichkeit und Redundanz. Dies gilt auch für die ganz wenigen Fälle, in denen Macpherson tatsächlich von einer existierenden Vorlage ausging, wie dem Volkslied von Ergons Einfall. Man vergleiche zum Beispiel die beiden folgenden Original-Verse Heiße Liebe die Königin Des braungeschildeten Lochlins ergriff Für Aldo der Waffen; langen Haars; Mit ihm führte sie aus den Betrug. Um ihn verließ sie des Königs Bett, Dies war die That, wo Blut drum floß! Mit ihm nach Alwin, der Finnier Sitz, Ueber das Meer entflohen sie. mit ihrer umständlich-schwülstigen Paraphrasierung durch Macpherson in der „Schlacht von Lora“: Aldo kehrte in seinem Ruhme zu Soras luftigen Mauern. Von ihrem Thurme blickte die Gattin Erragonës, das feuchte spähende Auge Lormaës; ihr blondes Haar floß Winde des Meeres; ihr weißer Busen wallte wie Schnee auf der Haide, wenn sanfte Winde sich heben und langsam im Lichte wogen. Sie sah den jugendlichen Aldo, gleich einem Strahle der sinkenden Sonne in Sora. Ihr sanftes Herz seufzte. Thränen füllten ihr Auge, ihr weißer Arm stützte das Haupt. Drei Tage saß sie in der Halle und verbarg ihren Gram unter Freude. Am vierten floh sie mit dem Helden über das wogende Meer. Sie kamen zu Konas moosigen Türmen, zu Fingal dem König der Speere! "Aldo, Du Herz des Stolzes, sagte Fingal im Zorn sich erhebend, soll ich Dich vertheidigen gegen die Wuth von Soras beleidigtem König? Wer wird ferner mein Volk in seinen Hallen empfangen, wenn die Fremden laden zum Mahle, seit Aldo mit der kleinen Seele meinen Namen in Sora entehrt hat? Geh zu Deinen Hügeln, Du schwache Hand, und verbirg Dich in Deinen Höhlen! Trauervoll ist die Schlacht, die wir müssen mit Soras trübem Könige kämpfen! Geist des edeln Trenmor, wann wird Fingal aufhören zu kämpfen? Mitten in Schlachten bin ich geboren und meine Schritte wandeln im Blute zum Grabe! Doch meine Hand beleidigt den Schwachen nie ? mein Stahl berührt der Feigen Waffen nicht! Ich seh Deine Stürme, o Morven, welche meine Halle verwüsten, wenn meine Kinder sterben im Kampf und Niemand übrig bleibt, in Selma zu wohnen! Dann werden Schwache kommen, aber nicht kennen mein Grab! Mein Ruhm ist im Gesange! und meine Thaten werden gleich einem Traume künftigen Zeiten erscheinen!" (1)

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„Fingal“ und „Temora“ Die drei letzten Sätze dieses Zitats belegen beiläufig die Schlitzohrigkeit und Hemmungslosigkeit, mit der Macpherson inzwischen vorging (im Originaltext: „Then will the feeble come, but they will not know my tomb: my renown is in the song: and my actions shall be as a dream to future times“). - Er läßt sich hier von Fingal selbst die Authentizität seiner Verse bescheinigen und voraussagen, daß es Schwach(köpfig)en späterer Zeiten vorbehalten sein werde, sie für einen Traum zu halten. Zwei Jahre später, im März 1763, erschien in derselben prächtigen Ausstattung und mit demselben gelehrsamen Brimborium der Folgeband „Temora“. Auch hier schallte wieder die wehmütige Stimme des Barden Ossian, wallten die Nebel, klirrten die Schwerter, lagerten die Helden zwischen bemoosten Felsen und lieferten Sonne, Mond und Sterne die stimmungsvollsten Beleuchtungseffekte. Auf die acht Bücher des Hauptpoems folgten kleinere Gedichte mit den Titeln „Cathlin of Clutha“, „Sulmalla of Lumon“, „Cath-loda“, „Oina-morul“ und „Colna-dona“. Der Kupferstich des Titelblatts veranschaulichte eine Episode aus dem siebten Buch des Temora-Epos, in der Sulmalla, die nächtens durch Fingals klirrenden Schild aufgeschreckt wird, Cathmor vor der drohenden Gefahr warnt. Nochmals zwei Jahre später, 1765, erschienen als Zusammenfassung von Fingal und Temora die „Works of Ossian“. Unter diesem Titel gingen beide Epen in die Literaturgeschichte ein, erlebten zahlreiche weitere Auflagen und wurden in der Fassung von 1773 zum textus receptus des 19. Jahrhunderts.

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Frechheit siegt

Frechheit siegt Wie Macpherson allerhöchste Protektion genoß und am Ende sogar die "Originale" herbeizauberte Mit dem Erfolg scheint bei Macpherson die Eitelkeit des Dichters wieder erwacht zu sein. Jedenfalls ließ er in seiner einleitenden „dissertation“ zu „Temora“ erstmals erkennen, daß er die angeblichen Originale nicht bloß wortwörtlich übersetzt, sondern mit einem gewissen künstlerischen Einfühlungsvermögen arrangiert habe. Die inzwischen laut gewordenen Zweifel an der Echtheit wies er aber hochmütig zurück: „Ich werde nach Erscheinen der vorliegenden Gedichte wahrscheinlich noch mehr von dieser Art zu hören bekommen. Ich wage nicht zu entscheiden, ob diese Verdächtigungen auf Vorurteilen oder bloß auf Unkenntnis der Fakten beruhen. Mich treffen sie nicht, da ich sie jederzeit entkräften kann. Solchen Unglauben zeigen Personen, die alles Verdienst ihrer eigenen Zeit und ihrem eigenen Land zuschreiben möchten. Es handelt sich dabei gewöhnlich um die unbedarftesten und unwissendsten Leute.“ Am Ende des Bandes fuhr Macpherson dann sein bislang schwerstes Geschütz auf, um die Zweifel an der Echtheit seiner Verse zu vernichten. Er veröffentlichte nämlich das siebte Buch von „Temora“ im angeblichen gälischen Urtext - nicht ohne einleitend zu bemerken, daß die „falsche Orthographie der Barden“ in vieler Hinsicht berichtigt worden sei... Schon im „Fingal“ hatte Macpherson geheimnisvolle Andeutungen über eine hohe Persönlichkeit gemacht, der er zu Dank verpflichtet sei. Der Folgeband „Temora“ enthielt dann eine ganzseitige Widmung für den Earl of Bute, auf dessen Veranlassung die "Übersetzung" erfolgt sei. Anscheinend hatte der Gönner zumindest die Druckkosten getragen. Eine höhere Protektion war kaum vorstellbar: Der Earl of Bute hatte es nämlich vom armen schottischen Edelmann zum Günstling der Königinmutter, zum Erzieher des unmündigen Thronfolgers und zum faktischen Regenten des Landes gebracht. Auch nach der Volljährigkeit von Georg III. bestimmte er weiterhin maßgeblich die Politik. Zugleich war er aber auch so unbeliebt wie kaum ein anderer. „Er wurde mit einem Hasse gehaßt, von dem es in England nur wenige Beispiele gegeben. Er war die Zielscheibe von jedermanns Schmähungen“, schrieb der Schriftsteller Thackeray. So mag es ein Geschäft auf Gegenseitigkeit gewesen sein, indem er für Macpherson die publiku*mswirksame Rolle des Mäzenaten übernahm, der keine Kosten scheut, um ein einzigartiges Dokument des nationalen Erbes der Vergessenheit zu entreißen. Seine Unpopularität war allerdings schon so groß, daß er kurz nach Erscheinen des Temora-Bands von der Leitung des Ministeriums zurücktrat, um seinen Einfluß fortan hinter den Kulissen geltend zu machen.

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Frechheit siegt Da der Ruf nach den Originalen nicht verstummen wollte, versprach die Londoner Hochlandgesellschaft Macpherson 1784 ihre großzügige finanzielle Unterstützung für den Druck der gälischen Urtexte. Macpherson antwortete ihr darauf, daß er sich an die Arbeit machen werde, sobald er die nötige Muße finde. Anscheinend hat er in den folgenden Jahren tatsächlich den ganzen „Ossian“ aus dem Englischen ins Gälische "rückübersetzt". Vor der Drucklegung scheute er jedoch zeitlebens zurück. Erst 1807, ein Jahrzehnt nach Macphersons Tod, wurden die "Originale" von der Londoner Hochlandgesellschaft in drei monumentalen Bänden veröffentlicht, denen 1870 nochmals eine Prachtausgabe folgte. Sie umfaßten neben dem eigentlichen Ossian, bestehend aus „Fingal“ und „Temora“, zwei weitere Epen aus dem Nachlaß. Ferner enthielten sie eine lateinische Übersetzung der Texte von Robert Macfarlan, eine „dissertation“ von John Sinclair und eine Abhandlung des Abbé Cesarotti, der in Italien als Propagandist und Übersetzer des „Ossian“ hervorgetreten war. Macpherson hatte gute Gründe, die Veröffentlichung so lange hinauszuzögern. Die angeblichen Originale wurden von dem Historiker Malcolm Laing und anderen Sachverständigen sofort als gälische Übersetzung der englischen Ausgabe von 1773 erkannt. Macpherson hatte also die gälischen "Originale", die nie existierten, nachträglich aus dem englischen Text seiner Fälschungen herbeigezaubert. Die große Schar der Gläubigen ließ sich durch diese Enthüllung freilich sowenig beeindrucken wie durch die zuvor schon erhobenen Einwände. Macpherson hatte es inzwischen, dank seiner vorzüglichen Beziehungen, zum Sekretär des Gouverneurs von Florida gebracht (1763 bis 1766). Nach der Rückkehr aus Amerika machte er sich der Regierung und den Tories in vielfältiger anderer Weise als Journalist und Pamphletist nützlich. Die Regierung verhalf ihrem Fürsprecher 1780 zu einem Sitz im Unterhaus, den er bis ans Lebensende innehatte, ohne sich indessen aktiv an den Debatten zu beteiligen. Macpherson hat nicht nur an seinem Ossian glänzend verdient. Noch mehr Geld verdiente er als Propagandist der Regierung, mit Börsenspekulationen und als Agent eines indischen Nabobs, der ihn mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt hatte. Als er starb, hinterließ er neben fünf unehelichen Kindern drei komfortable Häuser in London, Putney und im Distrikt Badenoch, wo er sich nahe seinem Heimatdorf die Villa "Belleville House" im italienischen Stil als Sommersitz hatte errichten lassen.

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Für Voltaire eine Frage des Geschmacks

Für Voltaire eine Frage des Geschmacks Der "Ossian" im Urteil kritischer Zeitgenossen und seine Rezeption außerhalb Englands Geistesgeschichtlich widerspiegelt der beispiellose Erfolg des Ossian die Agonie der Aufklärung. Diese hatte sich viel zu sehr der Logik und der klaren Form verschrieben, um der neuen Empfindsamkeit genügen zu können, die später in den „Sturm und Drang“ und schließlich in die „Romantik“ mündete. Der „Ossian“ unterlief den herrschenden Rationalismus geschickt, indem er sich nicht als Produkt einer romantischen Phantasie, sondern als ein wortwörtlich übersetztes Dokument aus dem dritten Jahrhundert präsentierte. Das zeitgenössische Bewußtsein hätte sich mit einer puren Poesie nie in solcher Weise einlassen können. Es verlangte nach dinglicher Legitimation. Ossian durfte deshalb keine poetische Erfindung sein. Nur als vermeintlich historische Gestalt konnte er sich der Phantasie bemächtigen. Wie wichtig diese pseudo-historische Legitimation war, bewies auch eine ganze Schar von Nachahmern. So legte 1780 der Reverend John Smith die englische Übersetzung und 1787 den angeblichen gälischen Urtext von 14 Gedichten vor, die er im schottischen Hochland gefunden haben wollte. Sie wurden ins Deutsche und Italienische übersetzt und in Frankreich sogar der dortigen Ausgabe des Ossian beigefügt. Ähnlich verfuhr ein irischer Offizier namens Harold, der im Dienst des pfälzischen Kurfürsten 1775 den „Ossian“ übersetzte. Er erweiterte dessen deutsche Ausgabe um drei angeblich neu entdeckte Gedichte, denen er 1787 weitere vierzehn und in den Jahren 1801 und 1802 nochmals zwei hinzufügte. Diese Fassung wurde besonders in Deutschland und Skandinavien geschätzt und 1803 ins Russische übersetzt. Als Nachfahren von geringerer Bedeutung erwähnt der Ossian-Experte Paul van Tieghem ferner John Clark, der 1778 angebliche Gesänge der kaledonischen Barden veröffentlichte, und den irischen Bischof Arthur Young, der seine 1787 veröffentlichten ossianischen Gedichte zum Teil aus der echten irischkeltischen Tradition geschöpft habe. Als grandiose Fiktion, die angeblich keine war und deshalb gleichermaßen den Ansprüchen des Sensualismus wie des Empirismus genügen konnte, trug der „Ossian“ nostalgische und utopische Züge zugleich. Es hing von der Lesart ab, wie man ihn verstand. In England dürfte die Lesart überwiegend nostalgisch gewesen sein. Die tiefe Demütigung der Schotten durch die Schlacht von Culloden verlangte nach psychischer Kompensation durch die Entdeckung und Verklärung einer großartigen keltischen Vergangenheit. Die Ressentiments zwischen Schotten und Engländern wurden dabei überlagert vom Konflikt

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Für Voltaire eine Frage des Geschmacks zwischen Calvinisten und Anglikanern sowie dem politischen Gegensatz zwischen Whigs und Tories. Das Ergebnis dürfte vor allem den Tories gefallen haben, wie schon daraus hervorgeht, daß der verhaßte konservative Regierungschef die Herausgabe von „Fingal“ und „Temora“ protegierte und Macpherson selbst ganz unverhüllt als Propagandist der Tories auftrat. Eine Ausnahme blieb die scharfe Zurückweisung, die der „Ossian“ durch den bekannten Schriftsteller und Literaturkritiker Samuel Johnson erfuhr. Sie bezeugte eine vom Geist der Aufklärung, der Logik und des Rationalismus getragene Skepsis, wie sie am ehesten noch in England anzutreffen war. Johnson urteilte über die angeblichen Bardengesänge: Ich glaube, sie sind nie in einer anderen Gestalt vorhanden gewesen, als in der wir sie gesehen haben. Der Herausgeber oder Verfasser hat das Original niemals aufweisen können, und es kann selbiges auch niemand anderes aufweisen. Einen vernunftmäßigen Unglauben damit ahnden zu wollen, daß man den Leuten den Beweis abschlägt, ist ein Grad von Übermut, von dem die Welt noch kein Beispiel gesehen hat; und halsstarrige Verwegenheit ist die letzte Zuflucht der Schuld. (1) Auf dem Kontinent wurde der „Ossian“ in vieler Hinsicht anders aufgenommen. Hier glaubte man aus seinen Versen jene Melodie herauszuhören, die Rousseau zur selben Zeit anschlug; eine „Naturpoesie“, die in ihrer Wildheit auch die verkrusteten Verhältnisse des ancien régime zu sprengen versprach. Zugleich ermöglichte er es dem erwachenden Nationalbewußtsein, eine Brücke vom Antike-Kult zur Glorie der eigenen Vergangenheit zu schlagen. Die Franzosen erkannten in Ossian mühelos ihren keltischen Vorfahren, die Deutschen sahen in ihm einen Germanen und die Skandinavier schätzten ihn als den nordländischen Nationalpoeten. In Frankreich galt der „Ossian“ zumindest als willkommene Beigabe zum klassizistischen Dekor, in dem die große Revolution vorbereitet und inszeniert wurde. Diderot machte sich sogar an die Übersetzung und war tief beeindruckt von dem „unglaublichen Maß an Schlichtheit, Kraft und Pathos“ in dieser Dichtung. Zu den wenigen Kritikern gehörte Voltaire. Als Rationalist behagte dem großen Aufklärer die nostalgische Träumerei nicht und als Skeptiker war er gegen Utopien immun. So sah er im „Ossian“ weniger eine Frage der Echtheit als eine Frage des guten Geschmacks. In einem fiktiven Gespräch ließ er einen Schotten, einen Professor aus Oxford und einen Florentiner über den „Ossian“ disputieren. Nachdem der Schotte begeistert aus dem „Fingal“ rezitiert und der englische Professor besonders den psalmodierenden, biblischen Ton hervorgehoben hat, bekennt der Florentiner - die Inkarnation des guten Geschmacks - , daß in die ossianischen Figuren reichlich kalt ließen: „Nichts ist leichter, als die Natur zu übertreiben, nichts ist schwieriger, als sie wirklich wiederzugeben. Es ist keine Kunst, in Schwulst zu verfallen, indem man gebrochene Verse macht, die überladen sind mit schmükkenden Worten, die fast immer dieselben sind; indem man Schlacht auf Schlacht folgen läßt und sich in Hirngespinsten ergeht.“ In Deutschland gehörte die „Gazette des Deux-Ponts“ zu den wenigen kritischen Stimmen, die nicht in die allgemeine Begeisterung miteinstimmen mochten. Das nahm, wenn

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Für Voltaire eine Frage des Geschmacks man die politische Rezeption des „Ossian“ in Deutschland bedenkt, allerdings nicht wunder. Das Blatt gehörte dem Herzog von Zweibrücken und wurde fast nur an den damaligen Höfen gelesen.Es war also ein Blatt des ancien régime, das allen Grund hatte, dem ossianischen Schlachtenlärm zu mißtrauen. Im übrigen war die Faszination in Deutschland jedoch so einhellig wie sonst nirgends. Der Geist Ossians schwebte über dem Göttinger „Hainbund“, in dem sich die Stürmer und Dränger der deutschen Literatur versammelten. Er inspirierte sowohl einen Friedrich Stolberg als auch einen Johann Heinrich Voß, ehe deren Freundschaft über der französischen Revolution zerbrach. Er hat Herders ganzes Lebenswerk geprägt und ihn den Ossian mit Moses und Hiob vergleichen lassen. Er hat den jungen Goethe beherrscht und seinen Werther die „Lieder von Selma“ für Lotte übersetzen lassen. Er ist nicht minder in den reifen Klopstock gefahren und hat ihn seine patriotischen Hermanns-Dramen ("Bardiet") dem schottischen Barden ablauschen lassen. Er hat schließlich unzählige namenlose Geister inspiriert, und sei es nur, indem sie ihre Kinder nach dem Ort „Selma“ oder nach dem Helden „Oskar“ nannten. - Dieser deutsche Ossian war weniger ein verkappter Tory als ein verkappter Revolutionär. In ihm überwog die Utopie.

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Burgen-Romantik

Burgen-Romantik Wie das "gothic revival" auf Deutschland übergriff und zum Wiederaufbau der Rheinburgen führte Ähnlichen Charakter wie die englischen „shams“ und „follies“ hatten in Deutschland der Wiederaufbau von Burgruinen am Rhein, die Errichtung der Burg Hohenzollern, des "Märchenschlosses" Neuschwanstein oder der Hohkönigsburg im Elsaß. In allen diesen Fällen verlor die Architektur ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit. Sie wurde Vehikel eines persönlichen Spleens, der freilich seinerseits gesellschaftlich bedingt und insoweit doch repräsentativ für das herrschende Bewußtsein war. Die Vorformen finden sich bereits in den Parkanlagen des 18. Jahrhunderts mit ihrer Fülle pittoresker, exotischer, nostalgischer, rein auf die „sensation“ zielenden Bauten. Die Burgenromantik kam mit einiger Verspätung aus England, wo das „gothic revival“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht hatte. 1822 erkundigte sich der preußische Prinz Friedrich Wilhelm Ludwig über Ankaufsmöglichkeiten von Burgruinen am Rhein. Unter Mitwirkung Schinkels wurde zunächst der Plan für den Wiederaufbau von „Rheinstein“ entworfen und von 1825 bis 1829 verwirklicht. Das Ergebnis hatte mit einem mittelalterlichen Bau ungefähr soviel Ähnlichkeit wie bei Horace Walpoles Villa „Strawberry Hill“ in Twickenham. Es war ein romantischer Traum mit Zinnen, Söllern, Toren, Wehrgängen, Zugbrücke usw. Über dem Tor prangte der Wahlspruch des preußischen Herrscherhauses: „Gott mit uns.“ Bedeutende Besucher wurden mit Böllerschüssen begrüßt. Nahe der Burg fanden Ritterspiele statt. Bei festlichen Anlässen wurde das Rheintal illuminiert. (1) Die neuerbaute Burg Rheinstein war als Sommerfrische und Jagdaufenthalt geplant. Wenn die Burg nicht benutzt wurde, stand sie zur Besichtigung offen. In der Eingangshalle lag ein Gästebuch aus und wurden Lithographien für wohltätige Zwecke verkauft. Auch darin glich die Burg "Strawberry Hill", das besichtigt werden konnte und von vornherein als stilbildendes Muster gedacht war. Als Carl Gustav Carus 1835 Rheinstein besuchte, sah er jede Menge von alten Waffen und Harnischen, Geschütze, Pickelhaufen, Streitäxte und Morgensterne. Der Führer deutete auf einen pseudo-altertümlichen Knappenrock und sagte: „Wenn der Prinz da ist, gehen wir alle im Mittelalter.“ Die vier Söhne des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. bekundeten einen ähnlichen Geschmack wie ihr Cousin. Dies galt besonders für Prinz Friedrich Wilhelm, den Thronfolger. Schon früh berauschte er sich an einer immensen Flut romantischer Lektüre, zu der namentlich der „Ossian“ und die Romane Fouqués gehörten. Seine erste Begegnung mit dem Rhein im Jahre 1815 geriet ihm zum sakralen Erlebnis: „Ich tauchte meine Rechte in den Rhein und bekreuzigte mich.“ Nachdem ihm die Stadt Koblenz bereits 1823 untertänigst

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Burgen-Romantik die Ruine „Stolzenfels“ angetragen hatte, nutzte Friedrich Wilhelm die Gelegenheit, seinem Cousin endlich nachzueifern und die Burg ab 1836 im Stile eines Märchenschlosses wieder aufbauen zu lassen. Die Einweihungsfeier am 14. September 1842 wurde zur Freiluft-Oper: Ein Fackelzug der Bauleute, alle in mittelalterliche Tracht gekleidet, füllte unter Musikbegleitung allmählich den Burghof und verteilte sich malerisch über die verschiedenen Treppen. Ein Chor sang das „Lied der Bauleute vom Stolzenfels“. Die benachbarte Festung Ehrenbreitstein wurde bengalisch beleuchtet, ebenso die Marksburg und Ruine Lahneck. Bei einer Rheinfahrt anläßlich der Einweihung von Stolzenfels faßte Friedrich Wilhelm, der seit 1840 als König amtierte, mit seinen Brüdern Wilhelm, Carl und Albrecht den Beschluß, auch die bereits 1834 angekaufte Ruine „Sooneck“ gemeinsam wiederaufbauen zu lassen. Wilhelm neigte allerdings mehr zum modisch-englischen Geschmack, den er 1835 in Schloß Babelsberg bei Berlin verwirklichte. Albrecht übertrug seinen Anteil an Sooneck schon 1850 auf den König, um sich ganz dem Bau seines von Schinkel entworfenen Schlosses Kamenz zu widmen. Der Aufbau von Sooneck zog sich dann von 1843 bis in die sechziger Jahre hin. Die erste Bauphase wurde durch die Revolution von 1848/ 49 beendet. Nach vierjähriger Unterbrechung kamen die Bauarbeiten nur sehr schleppend voran, da sich Friedrich Wilhelm seit 1853 verstärkt dem Ausbau von Hohenzollern widmete und ab 1856 infolge einer Serie von Schlaganfällen zunehmend unzurechnungsfähig wurde. Im Oktober 1858 mußte sein Bruder Wilhelm - der nachmalige Kaiser Wilhelm I. - offiziell die Regierungsgeschäfte übernehmen. Friedrich Wilhelm IV. war aber nicht "geisteskrank" im psychiatrischen Sinne, wie es oft dargestellt wird. (2) Es wäre deshalb irreführend, seine frühen mystischen Neigungen, sein Verschlingen romantischer Literatur oder die Begeisterung für mittelalterlichen Mummenschanz in Zusammenhang mit seiner späteren "geistigen Umnachtung" zu bringen. Gleiches gilt für den bayerischen König Ludwig II., der offiziell für geisteskrank erklärt wurde, nachdem er durch seine pompösen Nostalgie-Schlösser die Staatsfinanzen ruiniert hatte. Ludwig II. war vermutlich ein hochgradiger Neurotiker im klinischen Sinn, zeigte aber keine nachweislichen Symptome für psychiatrisch relevanten Realitätsverlust. (3) Seine angebliche Geisteskrankheit wurde durch den Arzt Prof. Gudden aufgrund zweifelhafter Zeugenaussagen per Ferndiagnose festgestellt. Persönlich bekam Gudden den König erstmals in der Nacht vom 11. auf den 12. November 1866 zu Gesicht, in der beide unter bis heute ungeklärten Umständen den Tod im Starnberger See fanden. Bei Friedrich Wilhelm waren der persönlichen Nostalgie auch deutlich Züge von Staatsräson beigemischt. Seine Vorliebe für frühchristlich-mittelalterliche Kunst war zugleich „Transportmittel zur Veranschaulichung eines staatspolitischen Modells, das der König und sein konservativer Kreis realisieren wollte“. In diesem staatstragenden Modell lauerte - anders als bei dem bayerischen Exzentriker Ludwig II. - bereits der Machtanspruch auf die Führungsrolle in Deutschland. Als Friedrich Wilhelm den Dom am Berliner Lustgarten in einem gigantesken, frühchristlich-"byzantinischen Stil" errichten ließ, baute er ihn erklärtermaßen nicht für die Berliner Domgemeinde, sondern als „Primas des Protestantismus“. (4) Er antizipierte so die kleindeutsche Reichsgründung unter preußischer Vorherrschaft

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Burgen-Romantik und Ausschluß des katholischen Österreich. Ludwig II. wußte dagegen mit den zwei Millionen Mark Bestechungsgeld aus dem Welfenschatz, die er von Bismarck für seine Zustimmung zur Reichsgründung bekam, nichts besseres anzufangen, als sie in seinen privaten Bau-Spleen zu stecken. Namentlich in den Rheinlanden, die nach dem Wiener Kongreß unter preußische Herrschaft geraten waren, regte sich damals vormärzliche Unzufriedenheit wegen des Verlusts der Freiheiten der "Franzosenzeit". Der Wiederaufbau von Stolzenfels war deshalb zugleich ein Akt der Restauration im politischen Sinne. Es entsprach sicher völlig den Absichten Friedrich Wilhelms, wenn ihm der örtliche Bauleiter von Wussow in einem Brief vom 10. April 1836 schrieb: Und wahrlich gehört von vielem Anderen auch dieses dazu, damit der noch wirrende Sinn der Bewohner der Rheinlande in der ebenso allgemeinen als vagen Vorstellung eines höheren historischen Lebens einen festen Erhalt finde, um sich in persönlicher Liebe und Verehrung, Anhänglichkeit und Hingebung an S. M. dem Könige, an E. K. H. und an das Königliche Haus nach und nach so verkörpern, daß solche den wahren Prüfstein treuer Diener und Untertanen bestehen können. (5) Äußerst sinnfällig machten den restaurativen Charakter der Burgenbauten ihre zum Teil tatsächlich fortifikatorischen Bauelemente. Diese traten allerdings erst nach 1848/49 auf. Das Mauerwerk von Rheinstein sollte vor allem verfallen-romantisch aussehen. Dagegen diente die zweifach von Ringmauern umschlossene Burg Sooneck mit ihren Mauern, Rampen, Terrassen und kompletten Wegeverbindungen offenbar auch bestimmten, wenngleich bescheidenen Verteidigungszwecken. Die Burg Hohenzollern wurde 1822/23 zunächst als malerische Teil-Ruine wiederaufgebaut. Noch während die badisch-pfälzische Revolutionsarmee verzweifelten Widerstand gegen die preußische Übermacht leistete und sich schließlich in der Festung Rastatt verschanzte, wurde dann im Juni 1849 der Beschluß gefaßt, die Burg Hohenzollern als Festung weiterzubauen. Entsprechend kam die Bausumme von 283 500 Talern zu 51,9 Prozent aus der Kasse des preußischen Kriegsministeriums. Ebenfalls wegen des Festungscharakters wurden die Bauakten im Potsdamer Heeresarchiv verwahrt, wo sie 1945 verbrannten. (6) Freilich blieben die fortifikatorischen Elemente bloße Zutat. Sie waren allenfalls zur vorübergehenden Abwehr revolutionären "Pöbels" geeignet. Dem Stand der Militärtechnik, wie ihn die Festungen Ehrenbreitstein oder Rastatt darstellten, genügten sie keinesfalls. Die Burgen waren so in erster Linie ideologische Bollwerke der Restauration. Während die englischen "shams" und "follies" von der fortgeschrittenen Verdinglichung des Bewußtseins der englischen Gesellschaft zeugten, widerspiegelte sich in diesen Burgenbauten eher die relative Zurückgebliebenheit Deutschlands, das mit einem halben Jahrhundert Verspätung das englische „gothic revival“ entdeckte und nachzuahmen versuchte. Während sich der englische König Georg IV. in durchaus bürgerlicher Manier am Exotisch-Pittoresken seines Royal Pavilion in Brighton ergötzt hatte, flüchtete nun der bayerische König Ludwig II. aus einer ihm verhaßten bürgerlichen Gegenwart in die Phantasmagorien des Mittelalters und eines noch unerschütterten ancien régime. Im Ar-

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Burgen-Romantik beitszimmer seiner Münchener Residenz stand eine Büste Ludwigs XIV., der ihm Inbegriff der „Poesie des Königtums“ war. 1866 richtete der bayerische Souverän gar an die römisch-katholische Kurie das Ansinnen, ihn durch Einführung eines für ihn bestimmten Gebetes in die tägliche Messe mit den Kaisern in Wien und Paris auf eine Stufe zu stellen. - Aber gerade mit solchen Träumen wurde er ein Opfer jener bürgerlichen Geistesverfassung, der er zu entrinnen vermeinte. Richard Wagner hat diese Träume zeitgerecht auf der Opernbühne inszeniert. Sein Gönner Ludwig II. übertrug sie ins Maßlose der Architektur, als wollte er wenigstens auf diese Weise ein letztes Mal die Macht eines absoluten Monarchen demonstrieren, der bis zum Ruin über sein Land gebieten kann. (7) Die Nostalgie der preußischen Herrscher verdankte sich ebenfalls jener durchaus bürgerlichen Ideologie, die Ludwig II. aus Walter Scotts „Ivanhoe“, Gustav Freytags „Bilder aus deutscher Vergangenheit“ oder zahlreichen Bildbänden schöpfte. Sie trug aber hier zugleich Züge der Staatsräson. Sie wollte, durch das persönliche Beispiel der Herrschenden, ein ideologisches Paradigma setzen. Dies ist ihr zum großen Teil auch gelungen.

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„Altdeutsch“ statt neugotisch

„Altdeutsch“ statt neugotisch Weshalb Kaiser Wilhelm II. den Hohenzollern nicht mochte und sich die Hohkönigsburg im Elsaß erbauen ließ Am 3. Oktober 1856 wurde nach sechsjähriger Bauzeit im Beisein von Friedrich Wilhelm IV. das Richtfest für die Burg Hohenzollern gefeiert. Der Neubau auf den Fundamenten der ehemaligen schwäbischen Stammburg des regierenden Herrscherhauses sollte zu einer steinernen Apotheose des preußischen Herrscherhauses und seines Machtanspruchs werden. Der Schinkel-Schüler Stillfried, dem die Bauleitung übertragen worden war, gestaltete ihn zur dreidimensionalen Verklärung der "Hohenzollern-Legende", welche die preußischen Hofhistoriker zusammengezimmert hatten, um die ganze deutsche Geschichte in Preußens Gloria enden zu lassen. Er entwarf ein Ausstattungsprogramm mit zahlreichen Historienbildern, Porträts, Skulpturen, Inschriften, Wappen und Stammtafeln, das aus heutiger Sicht wie ein bunter Reklameprospekt für Monarchie und Kirche anmutet. Es war der Versuch, mit den damals zur Verfügung stehenden Techniken die "HohenzollernLegende" in dinglicher Gestalt zu visualisieren. Jedoch lassen sich weder der Burgenbau noch sonstige "byzantinische" Neigungen Friedrich Wilhelms allein mit staatspolitischem Kalkül und schlichten Manipulationsabsichten erklären. Die mystische Frömmigkeit des Prinzen und Königs war sicher nicht nur geheuchelt. Sie war kein "sacrificium intellectus"auf dem Altar der Staatsräson, sondern entsprang dem Zeitgeist, wie ihn Overbeck, Cornelius und andere „Nazarener“ in ihren Gemälden zum Ausdruck brachten. Sie war so authentisch wie die mystischen Neigungen seines Vor-Vorgängers Friedrich Wilhelm II., der sich 1781 in den „Orden der Gold- und Rosenkreuzer“ aufnehmen ließ. In beiden Fällen erlagen die Könige ideologischen Strömungen, die grundsätzlich bürgerlichen Charakter trugen. Wo sie diese für restaurative Zwecke nutzen zu können glaubten und bewußt auch nutzten, wie in der Schulaufsicht, waren sie sozusagen Betrüger und Betrogene in einer Person. Wie die Könige im Märchen, die den Idealmenschen jenseits aller Bedrückung und Arbeitsteilung verkörpern, waren Friedrich Wilhelm IV. oder Ludwig II. die psychischen Exponenten jener bürgerlichen Entwicklung, die sie subjektiv ablehnten oder gar rückgängig zu machen versuchten. Ihre prominente Stellung prädestinierte sie zu Verstärkern des herrschenden geistigen Klimas und zur Antizipation von Bewußtseinszuständen, die erst viel später bei der breiten Masse der Bevölkerung manifest wurden. Dieses Moment ist es auch, was Ludwigs "Königsschlösser" heute zur weltweiten Attraktion macht und Neuschwanstein als verkleinerte Verdinglichung eines dinglichen Traums sogar in zahlreichen Schrebergärten wiederfinden läßt. In ähnlicher Weise wird heute die Burg Hohenzollern von der Masse des Publiku*ms ganz naiv als "Märchenschloß" oder gar als historische Burg rezipiert. Die soziale Ambivalenz der Nostalgie, aus der sich Friedrich Wilhelm IV. die Festigung von Thron und Altar in der Realität erhoffte und Ludwig II. ein absolutes Königtum in

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„Altdeutsch“ statt neugotisch seinen Träumen errichtete, läßt sich am Beispiel der Ideologie der „altdeutschen Kleidung“ studieren. Von der Einweihung der Burg Stolzenfels 1842 bis zur Einweihung der Hohkönigsburg im Elsaß 1908 durch Kaiser Wilhelm II. pflegten die preußischen Potentaten die Statisten ihrer verdinglichten Träume in deutschtümelnd-historisierende Kostüme zu stecken. - Aber auch der Theologiestudent Karl Ludwig Sand hatte sich "altdeutsch" kostümiert, als er 1819 in Mannheim den Schriftsteller August von Kotzebue als Repräsentanten des verhaßten Metternich-Regimes ermordete. Gustav Struve, Friedrich Hecker und andere Vertreter der Revolution von 1848/49 zeigten sich ebenfalls gern im „altdeutschen Rock“, um ihre revolutionäre Gesinnung zu demonstrieren. Richard Wagner beteiligte sich aktiv am revolutionären Kampf von 1849, bevor er sich als Spezialist für Altdeutsches auf der Bühne in den Dienst der Restauration stellte. Eine ausführlichere Analyse dürfte belegen, daß die Ideologie des "Altdeutschen" primär eine Ideologie des deutschen Bürgertums war, die sich unter anderem aus dem „Ossian“ nährte. Erst im Zuge der Befreiungskriege gegen Napoleon und besonders nach der nationalen Einigung unter preußischem Zepter gewann sie ihren späteren reaktionären Charakter: Im Unterschied zu den demokratisch-republikanischen Forderungen ließ sich die nationale Symbolik von der noch immer am Ruder befindlichen Feudalklasse und ihren großbürgerlichen Verbündeten gefahrlos adaptieren und sogar zur Legitimation ihrer Herrschaft verwenden. Aus dieser Adaption des "Altdeutschen" zur Staatsideologie erklärt sich auch die Geringschätzung, die der englisch-neugotischen Burg Hohenzollern schon wenige Jahre nach der 1867 erfolgten Fertigstellung zuteil wurde. Noch 1878 pries der württembergische Hofschriftsteller Eduard Paulus die Burg als eine „Schöpfung, die nach Jahrhunderten noch Bewunderung erregen wird“. Aber schon 1893 zeigte sich Kaiser Wilhelm II. bei einer Besichtigung derart „fassungslos“, daß er „die Burg in Ordnung zu bringen“ wünschte und sogar „eine völlig neue Wiederherstellung“ in Erwägung zog. Der Architekt Gabriel Seidl, der um entsprechende Vorschläge gebeten wurde, bezeichnete die Burg als „derart verpfuscht“, daß nur die Möglichkeit bleibe, sie abzureißen und neu aufzubauen. (1) Der ideologische Paradigma-Wechsel der achtziger Jahre, der den Hintergrund dieses Geschmackswandels bildete, umfaßte freilich noch weit mehr als die Adaption des "Altdeutschen" durch die herrschenden Kreise. Inzwischen war die „kalte Pracht“ des Historizismus, mit der das gründerzeitliche Bürgertum sein verdinglichtes Bewußtsein dekorierte, gründlich in Verruf geraten. Vor allem die junge Generation wollte den industriell hergestellten Abklatsch von Gotik, Renaissance und Barock nicht mehr sehen. Sie sehnte sich nach dem Echten und auch nach der authentischen Erfahrung von Vergangenheit. Dieser Edel-Nostalgie, die schließlich zum Jugendstil führte, konnte der vom englischen "gothic style" inspirierte Bau auf dem Hohenzollern nicht mehr genügen. Er wurde nun als unecht empfunden, da die Ansprüche an historische Detailgetreuheit höher geschraubt worden waren. Aus Wilhelm II. sprach also - wie so oft - nur der ganz banale Zeitgeist, wenn er das Werk seiner Vorgänger derart schroff ablehnte. Welche Blüten diese Edel-Nostalgie ihrerseits trieb, macht gerade Wilhelm II. deutlich. Seine Auftritte in historischer Maskerade - sei es für kitschige Gemälde vor dem Hofmaler oder in der Realität wie bei seinem Einzug nach Jerusalem - grenzten schon für Zeitgenossen ans Lächerliche.

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„Altdeutsch“ statt neugotisch Eine ähnliche Geistesverfassung zeigte übrigens Ludwig II., der die Fiktion einer BühnenInszenierung nur unter der Voraussetzung vollkommener „Authentizität“ genießen konnte. Die Ausstattung eines Bühnenstücks mußte für ihn bis ins Detail historisch getreu sein. Er schickte deshalb die Dekorationsmaler des Meininger Hoftheaters bis in die Schweiz oder nach Frankreich, damit sie ihm „authentische“ Kulissen für den Wilhelm Tell oder die Jungfrau von Orleans malen konnten. Ebenso grotesk war es, wie er beim Bau des Schlosses Neuschwanstein (1869 - 1886) auf der „originalgetreuen“ Verdinglichung seiner Hirngespinste bestand: „Die Maler, welche an den Bildern im dritten Stock malen (aus der Edda) müssen sich genau an die Sage halten und dürfen sich keine Willkürlichkeiten erlauben. Es kommt S. M. vor, als wenn das Bild "Tod Siegfrieds" nicht genau nach der Sage gemalt wäre.“ (2) Kaiser Wilhelm II. baute sich ein Neuschwanstein nach eigenem Geschmack in Gestalt der Hohkönigsburg im Elsaß. Die Ruine war ihm gelegentlich eines kaiserlichen Besuchs in dem neuen "Reichsland" von der Stadt Schlettstadt als Geschenk angeboten worden. Er nahm dankend die Gelegenheit wahr, „Eigentümer einer der größten und besterhaltenen deutschen Burgen zu sein, deren Steine uns das Wesen deutscher Ritterherrlichkeit aus längst vergangenen Zeiten verkünden“. (3) Bis 1908 errichtete der einschlägig erfahrene Bodo Ebhardt eine Burg, wie sie in die Vorstellungen Seiner Majestät paßte: Nicht märchenhaft-prunkvoll, wie Hohenzollern, sondern märchenhaft-trutzig, wie es der militaristischen Ideologie des wilhelminischen Deutschland und zugleich der prätentiösen Schlichtheit der spirituellen Reformgeisterei um die Jahrhundertwende entsprach. Das Architekturtheater sollte nebenbei den preußisch-deutschen Anspruch auf Elsaß-Lothringen unterstreichen. Noch nach dem ersten Weltkrieg waren für den Architekten Bodo Ebhardt die Hohkönigsburg und andere elsässische Burgen „der beste Beweis gegen die Lügen der Feinde Deutschlands, daß das Elsaß jemals etwas anderes als ein urdeutsches Land gewesen sei“. (4) Die Abgeordneten des elsässisch-lothringischen Landtags folgten dennoch nur zähneknirschend - la mort dans l‘âme, wie einer auf französisch formulierte - dem Ansinnen, die Hälfte der immensen Baukosten von 1,4 Millionen Mark zu bewilligen. Der Kaiser zeigte sich erkenntlich, indem er wenigstens den verhaßten "Diktaturparagraphen" aufheben ließ. Zur Einweihung, die am 13. Mai 1908 bei strömendem Regen stattfand, ging der übliche historische Mummenschanz über die Bühne. Der Kaiser erschien in weißer Kürassieruniform. Von historischer Detailgetreuheit war aber auch die Hokönigsburg ziemlich weit entfernt, obwohl dem Architekten Ebhardt ein ganzer Stab von Historikern und Archäologen beigegeben worden war. Sie entsprach nur ziemlich akkurat dem Stand des zeitgenössischen Bewußtseins.

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Elegie der Kindheit

Elegie der Kindheit Wie ein Kunsthistoriker seine persönliche Nostalgie als "Verlust der Mitte" auf die Kunst der Neuzeit proji*zierte Es ist nicht unbedingt alles "Wissenschaft", was als solche daherkommt. Oft ist es eher der Zeitgeist im wissenschaftlichen Gewand. Zum Beispiel würde heute niemand mehr das Heimweh mit dem Luftdruck begründen oder als Quelle für Wahnsinn und Verbrechen ansehen. Auch der Psychoanalytiker, der das Heimweh weiterhin mit der unbewußten Sehnsucht nach der Brust der Mutter oder dem Penis des Vaters begründen wollte, würde wenig Anerkennung finden. Als Beispiel für die Virulenz von Nostalgie in der Wissenschaft soll hier ein berühmtes Buch des Kunsthistorikers Walter Sedlmayr dienen, das kurz nach dem zweiten Weltkrieg erschien und den angeblichen "Verlust der Mitte" in allen Bereichen der Kunst beklagte. (1) Sedlmayr glaubte feststellen zu können, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa eine „innere Revolution von unvorstellbaren Ausmaßen“ eingesetzt habe, von der die französische Revolution nur ein sichtbarer Teilvorgang gewesen sei. Damit beginne die geistig-künstlerische Krise der Gegenwart und träten auf dem Gebiet der Kunst Erscheinungen auf, die es nie zuvor gegeben habe. „Mit so großer symbolischer Kraft sprechen sie von Erschütterungen im Inneren der geistigen Welt, daß es einmal unverständlich erscheinen wird, daß die Betrachtung der Kunst nicht sogleich alles verraten hat.“ Sedlmayr veranschaulichte seine These vom "Verlust der Mitte" mit etlichen, im Bild beigefügten Beispielen: Die früheste Dekadenz sah er im Landschaftsgarten, der die Grenze zwischen Kunst und Natur verschwimmen lasse. Es folgten dann Beispiele aus der Architektur. Für besonders symptomatisch hielt er etwa die um 1778 entstandene Idee des Revolutionsarchitekten Ledoux, ein "Haus der Flurwächter" als Kugel zu errichten. Die Fortsetzung dieser bedenklichen Tendenz sah er in Schinkels Projekten, Klenzes "Walhalla", den frühen Glas-Eisen-Konstruktionen des 19. Jahrhunderts, im historisierenden Baustil und schließlich in der Bauhaus-Moderne. Eine ähnliche Linie zog er in der Malerei von Flaxman über Turner, Goya, C. D. Friedrich, Daumier, Delacroix, Grandville, Ensor, Cézanne, Seurat, Picasso, Schiele, Kokoschka, Grosz, Dali und Rodin bis zu Maillol. Sedlmayr sprach den dekadenten Tendezen keineswegs künstlerische Berechtigung und Ausdruckskraft ab. Er verwendete dann aber doch die Metapher von einem „Krankheitsverlauf“, der sich in mehrere „Schübe“ unterteilen lasse. Die psychische Verfassung, die den "Verlust der Mitte" bewirke, charakterisierte er mit den Worten: „Verstand und Gefühl, Verstand und Triebe, Glauben und Wissen, Herz und Kopf, Leib und Geist, Seele und Geist werden auseinandergerissen und zu Widersachern erklärt. Der Wunsch, sie in Vereinigung zu halten, wird, wie die Mäßigung überhaupt, als Lauheit verschrien.“

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Elegie der Kindheit Als Ursachen der Krise denunzierte Sedlmayr „intellektuellen Hochmut und intellektuelle Verzweiflung, die Verlegung des Schwerpunktes menschlicher Geistestätigkeit in die Zone des Anorganischen oder ein Sich-Versperren nach ‚Oben‘". Die Krise zeige „anthropologisch-kosmologischen“ Charakter. Es sei deshalb falsch, ihre wesentliche Ursache in den wirtschaftlichen oder sozialen Verhältnissen zu erblicken. Eine solche Erklärung sei selber nur Symptom der Krise, indem sie unfähig sei, „sich über die untere Ebene der Weltbetrachtung zu erheben“. Sedlmayr hoffte stattdessen auf eine spirituelle Revolution, damit „Angst, Melancholie und Entfremdung weichen und der Heiterkeit Platz machen“. Mit Nietzsche sei er der Überzeugung, daß seit etwa 1770 eine „Abnahme der Heiterkeit“ zu bemerken sei und daß diese Verdüsterung, diese pessimistische Färbung des gesamten Lebensgefühls der Aufklärung angelastet werden müsse. Entsprechend erhoffte er sich die Genesung des Zeitgeistes von „unwiderleglichen Demonstrationen der Tatsache, daß der Traum vom autonomen Menschen verhängnisvoll und zerstörerisch war“. Einige Jahre später eröffnete Sedlmayr die neue Taschenbuchreihe "rowohlts deutsche enzyklopädie" mit einer Polemik gegen „Die Revolution in der modernen Kunst“. Er kritisierte erneut „die Vorherrschaft des anorganischen Geistes und des Ästhetizismus“ und warnte davor, „sich der faktisch siegreichen Revolution dieses Geistes als etwas Unabänderliches zu konformieren“. Andernfalls drohe der Untergang: „Wir behaupten, daß dieser Geist, perennierend geworden, nicht nur die Natur und die Kultur zersetzen würde (...) sondern jedes menschenwürdige Dasein überhaupt; daß er es geistig und seelisch zerstören würde, bevor sein stolzestes Produkt, die Atombombe, es auch physisch vernichtet.“ Offenbar vermißte Sedlmayr in der Kunst seit Ende des 18. Jahrhunderts eine Harmonie, die er in den vorausgegangenen Epochen, einschließlich Renaissance und Barock, noch zu finden vermeinte. Er trauerte einem vermeintlichen Goldenen Zeitalter der Kunst nach. Im Epochen-Vokabular der Kunstgeschichte gemahnt seine "verlorene Mitte" am ehesten an die "Klassik", während jene Kräfte, die den Verlust bewirken, der "Dekadenz" entspringen. Sedlmayrs Bücher waren damit dem restaurativen Zeitgeist auf den Leib geschrieben. Sie standen in der Tradition jener Polemik gegen die angebliche "Entartung" der Kultur, mit der ein halbes Jahrhundert zuvor der Schriftsteller Max Nordau seinen gleichnamigen Bestseller bestritt. Für nicht wenige Leser dürfte Sedlmayrs christlich-konservativer Rundumschlag bis ins 18. Jahrhundert denn auch den alten Vorwurf der "Entartung" (oder gar des "Kulturbolschewismus") ersetzt haben, der durch den Nationalsozialismus inzwischen kompromittiert war. Dennoch würde man es sich zu einfach machen, Sedlmayrs Ansichten als konservativrestaurative Stimmungsmache abzutun. Der "Verlust der Mitte" ist, trotz aller Schwächen, ein sehr ernsthafter, ernstzunehmender und noch heute lesenswerter Versuch, in der Kunst die Zeichen der modernen Entfremdung zu deuten. Sedlmayrs Fachwissen als Kunsthistoriker kompensiert teilweise die Schwächen seines ideologischen Ansatzes. Zu seinen bemerkenswerten Einsichten gehört die Abfolge jeweils „führender Aufgaben“ in der Kunst: Zunächst die Verlagerung von der Kirche zum Schloß (oder vereinzelt zum Rathaus);

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Elegie der Kindheit später dann vom Landschaftsgarten über "architektonisches Denkmal", Museum, Theater und Ausstellung zur Fabrik. Über Rang und Reihenfolge im einzelnen läßt sich streiten. Der grundlegende Gedanke, daß zu verschiedenen Zeiten wechselnde künstlerische Aufgaben im Vordergrund stehen und den Geist der Epoche repräsentieren, ist aber des Nachdenkens wert. Dafür versagt der Blick des Fachmanns in frappanter Weise bei der historischen Eingrenzung jener Entfremdung, die er - an sich legitim und naheliegend - in der neuzeitlichen Kunst zu deuten versucht. Sedlmayr scheint derart auf die Aufklärung im geistig-philosophischen Sinn fixiert zu sein, daß er die künstlerische Antizipation dieser Aufklärung durch Renaissance und Barock vollkommen ignoriert. Für ihn beginnt der "Verlust der Mitte" mit dem Aufstand gegen das Barock; künstlerisch in Form des Rokoko, politisch durch die englische "Revolution auf kaltem Wege" und die französische Revolution. Die vorangegangene, noch tiefere Krise, die zur Erstarrung und Zersetzung der Renaissance im Manierismus führte, ist für ihn nur eine vorübergehende Beeinträchtigung des Goldenen Zeitalters der Kunst. Er übersieht so das früheste und eindrucksvollste Menetekel jener neuen Entfremdung, die mit Beginn der Neuzeit die alte, religiös gewirkte Entfremdung der Feudalgesellschaft zu überlagern und abzulösen begann. Der Kunsthistoriker Arnold Hauser hat dem Manierismus eine ausführliche Arbeit gewidmet. Er hebt darin hervor, daß sich die Krise der Renaissance nur mit einer neuen Entfremdung erklären lasse: „Die Menschen fühlen sich auf einmal von allem, was ihrem Leben bisher Sinn und Ziel verliehen hat, wie abgeschnitten, von allem, was ihnen vertraut war, getrennt und entfernt. Sie mögen auch früher von strengen Mächten beherrscht gewesen sein, jetzt stehen sie plötzlich fremden Mächten gegenüber. Fremd ist ihnen die eigene Arbeit geworden, die sie nach immer mechanischeren Methoden vollziehen; an die Stelle der patriarchalischen, wenn auch nicht immer geradezu harmlosen Herrschaftsverhältnisse sind der unpersönliche Markt und die unerforschliche Konjunktur getreten.“ (2) Überzeugend legt Hauser dar, daß der Manierismus, der früher nur als "Spätrenaissance" gesehen wurde, ein eigenständiger, antithetisch angelegter Stil war. Noch mehr: daß er die erste große Revolution der neuzeitlichen Kunstgeschichte darstellt, sozusagen das Urbeben all jener Erschütterungen, die Sedlmayr als "Verlust der Mitte" beklagt. Die Negation der Renaissance durch den Manierismus ist demnach das Vorbild aller späteren Negationen: des Barock durch das Rokoko, des Klassizismus durch die Romantik, des Biedermeiers durch den historisierenden Eklektizismus oder des Jugendstils durch die Moderne. Parallel zum künstlerischen Ausdruck lassen sich dabei geistige Negationen erkennen: des Humanismus durch die Reformation, der Aufklärung durch die Empfindsamkeit, der Klassik durch Sturm und Drang, des Sturm und Drangs durch die Romantik, der vormärzlichen "Tendenz" durch die Restauration oder des Kraft-und-Stoff-Glaubens in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Neu-Idealismus im Fin de siècle. Das hieße aber, daß jene "Krankheit", die nach Sedlmayrs Ansicht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausbrach, eine Krankheit der Kunst vom Beginn ihrer Emanzipation an war. Der Virus lauerte demnach bereits in der Renaissance, als sich die Kunst von der

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Elegie der Kindheit religiösen Bevormundung befreite und überhaupt erst zur Kunst im neuzeitlichen Sinne wurde. Schon die Werke Michelangelos, Raffaels oder Botticellis wären demnach "krank" gewesen - eine These, mit der Sedlmayr natürlich nur Spott geerntet die die er deshalb weit von sich gewiesen hätte. Die Blindheit des renommierten Kunsthistorikers erklärt sich zum Teil aus seinem altfränkischem Idealismus. Er glaubte ebenso an die Autonomie der Kunst wie an die des Geistes. Daß die Kunst an das herrschende Bewußtsein und dieses wiederum an die herrschende materielle Kultur gebunden sein könnte, paßte nicht in sein christlich-religiöses Weltbild. So machte er den Überbringer der Botschaft für deren Inhalt verantwortlich. Er sah in der Kunst des vorrevolutionären Zeitalters die vermeintlich heile Welt des christlichen Abendlandes und verkannte dabei, daß diese Welt längst gründlich unterminiert war; daß der Sündenfall des „metaphysischen Sinnverlusts“ nicht erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte, sondern in der Neuzeit und ihrem Bewußtsein schlechthin angelegt war. Wichtiger noch als der restaurative Zeitgeist dürfte aber eine sehr persönliche Nostalgie gewesen sein: Was Sedlmayr als "Verlust der Mitte" beklagte, war offenbar eine Elegie der eigenen Kindheit, die der 1896 geborene Kunsthistoriker nicht nur individuell auf der Sonnenseite der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch historisch in der sprichwörtlichen „belle époque“ erlebte. Bestätigt wird diese Vermutung durch die inzwischen erfolgte Veröffentlichung von Sedlmayrs Lebenserinnerungen. (3) Vollendet hat er allerdings nur die Schilderung seiner Kindheit. Für den Rest ist es bei Entwürfen geblieben. Sedlmayr hat seiner Elegie den programmatischen Titel „Das goldene Zeitalter“ verliehen. Dem goldenen Zeitalter der Kindheit sollten unter dem Titel „Das silberne Zeitalter“ die Erinnerungen des jungen Mannes folgen, dem das Reich der Kunst gleichsam als Ersatz für den Zauber der Kindheit dient. Im dritten Teil der Memoiren waren die Erfahrungen des Erwachsenen als „Das eherne Zeitalter“ vorgesehen. Im vierten und letzten Teil der Lebenserinnerungen wollte Sedlmayr dann mit der Reife und Abgeklärtheit des Alters die „Rückkehr zum goldenen Zeitalter“ beschwören, mit dem Untertitel „Fülle der Zeit“ oder „Neuer Himmel und neue Erde“. Wie aus diesen autobiographischen Berichten und Skizzen Sedlmayrs hervorgeht, ersetzte für den jungen Mann die Kunst das goldene Zeitalter der Kindheit. Als zweite Wahl, als silbernes Zeitalter, war dieses Kunstinteresse nostalgisch geprägt. Es wurde getragen von der Sehnsucht nach einer Zeit, die sowohl persönlich durch das Größerwerden wie auch historisch durch die Erschütterung des ersten Weltkriegs unwiederbringlich verloren gegangen war. In die Phase des Erwachsenen, das "eherne Zeitalter", fiel dann der zweite Weltkrieg mit einer noch tiefergehenden Erschütterung des Glaubens an die Gegenwart. Auch in der Kunst ging nun vollends das Gute, Wahre und Schöne im überkommenen Sinne verloren. Dies war die Situation, in der Sedlmayr den "Verlust der Mitte" beklagte.

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Die Rosenkreuzer

Die Rosenkreuzer Wie ein nostalgisches Hirngespinst sich verselbständigte und von Tübingen nach Kalifornien gelangte Die Wege der Nostalgie sind oft verschlungen und wunderbar. Wer zum Beispiel vor den äygptischen Tempeln des "Rosicrucian Park" im kalifornischen San Jose steht, wird zunächst gewaltig in die Irre geführt. Die Klärung der naheliegenden Frage, welche Bewandtnis es mit dieser seltsamen Architektur habe, führt nicht etwa in das 14. Jahrhundert v. Chr. nach Luxor an den Nil, sondern in das frühe 17. Jahrhundert nach Tübingen an den Neckar. Der Rosicrucian Park in San Jose beherbergt die Zentrale der weltweit operierenden Rosenkreuzer-Sekte AMORC. Sein eindrucksvollstes Gebäude ist das „Rosicrucian Egyptian Museum“, das nach Art eines altägyptischen Luxor-Tempels errichtet wurde. Und das Innere hält durchaus, was die Fassade verspricht: Steigt man die Stufen zum Tempeleingang empor, vorbei an steinernem Fabelgetier, gelangt man in eine der interessantesten Sammlungen altägyptischer, assyrischer und babylonischer Kunst. Dieses ägyptische Museum ist jedoch kein musealer Selbstzweck. Es dient vielmehr einer legitimatorischen Absicht: Der „Ancient Mystical Order of the Rosy Cross (AMORC)“ will damit seine hauseigene Ideologie stützen, der zufolge AMORC als „größte und älteste Bruderschaft der Welt“ aus einer Mysterienschule hervorgegangen ist, die zur Zeit des Pharao Amenophis IV. um 1350 v. Chr. gegründet wurde. - Für eine Sekte, die nachweislich erst 1916 gegründet wurde, wahrlich keine leichte Aufgabe, und so wird der gewaltige Aufwand verständlich, mit dem hier ägyptische Vergangenheit demonstriert wird. Auf Werbezetteln, die in der Eingangshalle des Museums ausliegen, wird der Besucher zur Bestellung einer kostenlosen Schrift animiert, die nichts geringeres als „Die Meisterung des Lebens“ ("The Mastery of Life") verheißt. „Die Rosenkreuzer sind eine weltweite kulturelle Bruderschaft“, erfährt man weiter. „Sie haben jahrhundertlang Männer und Frauen gelehrt, alle Fähigkeiten ihres Selbsts zu erkennen und zu nutzen. Die Rosenkreuzer sind keine religiöse Sekte. Sie bieten weder Glaubenslehren noch Dogmen, sondern tatsächliches Wissen über den Menschen und seine kosmischen Beziehungen.“ Die Sekte will also gar keine Sekte sein und bietet angeblich auch keine religiösen Glaubenslehren an. Dieser Beteuerung muß man allerdings schon glauben, bevor man Rosenkreuzer wird, ebenso wie den übrigen Inhalt des Werbezettels: Alle Menschen hätten eine „Aura“, heißt es da, eine Ausstrahlung psychischer Energie. So entstehe ein „supersensitives Feld“, das den Körper umgebe und auf das ständig die Gedanken und Gefühle einwirkten. Die Auren der Menschen beeinflußten sich wiederum gegenseitig, was zum

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Die Rosenkreuzer Beispiel spontane Zu- und Abneigung, aber auch intuitive Gefühle und Einfälle erkläre. Alle Menschen lebten in einem „Meer kosmischer Energie“ und seien so „Teil dieses weiten universalen elektromagnetischen Spektrums“. Dieses seltsame Gebräu aus Mystik, Pseudo-Wissenschaft und "positivem Denken" trägt die Handschrift des "Parapsychologen" und einstigen Theosophen H. Spencer Lewis, der AMORC einst im sonnigen Kalifornien gründete. Eine theosophische Vergangenheit hatte auch Max Heindl, der als Vizepräsident der „Theosophischen Gesellschaft“ amtierte, ehe er 1909 in den USA die „Rosicrucian Fellowship“ ins Leben rief. Das Hauptquartier dieser Sekte, die in Deutschland als „Rosenkreuzer-Gesellschaft Heindl (RG)“ firmiert, befindet sich heute in der kalifornischen Stadt Oceanside. Als dritte der größeren RosenkreuzerVereinigungen entstand in den zwanziger Jahren das „Lectorium Rosicrucianum (LR)“, das seit 1936 vom holländischen Haarlem aus operiert. Der Gründer und Großmeister war in diesem Fall ein gewisser Jan van Rijckenborgh. Nach dem 1968 erfolgten Tod des Großmeisters und heftigen, intriganten Kämpfen um die Nachfolge spaltete sich unter einem Sohn Rijckenborghs die „Esoterische Gemeinschaft Sivas“ ab. Daneben gibt es noch zahlreiche weitere Rosenkreuzer-Gruppen. Wie es sich für Geheimgesellschaften gehört, veröffentlichen die Rosenkreuzer-Sekten keine Mitgliederzahlen. Als die beiden größten und international verbreitetsten gelten AMORC und RG, die von Kalifornien aus geleitet werden. Die Mitgliederzahlen dürften hier mindestens fünfstellig sein. Beim LR wird mit maximal 8000 Mitgliedern gerechnet, die hauptsächlich in den Niederlanden und Deutschland beheimatet sind. Die "Esoterische Gemeinschaft Sivas" soll allenfalls etwa tausend Mitglieder haben. Bei den übrigen Rosenkreuzer-Sekten reichen die Mitgliederzahlen hinunter bis zum Einmann-Betrieb einer in Hamburg ansässigen „Sieben-Rosen-Zentrale“, die per Annoncen gläubige Abnehmer für die Erzeugnisse ihres „Sieben-Rosen-Versands“ sucht. Allen Richtungen gemeinsam ist eine esoterisch-mystische Lehre, welche die schrittweise Erhebung ihrer Mitglieder über das profane Alltagsbewußtsein und tradierten Christenglauben verspricht. „Durch Einweihungen auf den verschiedenen Graden, unter Beachtung äußerer Lebensregeln, streng an Arkandisziplinen gebunden und von der Leitung abhängig, gehen die Neophyten (Neumitglieder) ihren Rosenkreuzerweg, um eines Tages ‚Ritter Rosae Crucis‘ zu werden.“ So heißt es in einer zusammenfassenden Darstellung der Rosenkreuzer-Sekten, die im Auftrag der evangelischen Kirchen erstellt wurde. Alle diese Richtungen gingen davon aus, daß im Menschen göttliche Kräfte latent vorhanden seien, die man erkennen, erwecken und wirksam werden lassen könne. Im einzelnen seien Lehren und Bräuche jedoch recht unterschiedlich. Zum Beispiel verlangten die beiden kalifornischen Sekten keinen Austritt aus der Kirche oder sähen ihn sogar als unerwünscht an. Dagegen bestehe das europäische LR unbedingt auf Kirchenaustritt. (1) Geistige Verwandtschaften bestehen zu der 1875 gegründeten "Theosophischen Gesellschaft", der "Anthroposophie" Rudolf Steiners und zum Spiritismus. Die modernen Rosenkreuzer können als Bestandteil einer neo-mystischen Strömung gesehen werden, die im 19. Jahrhundert als Reaktion auf den Zerfall des wissenschaftlichen Fortschrittsglaubens einerseits und die nachlassende Überzeugungskraft kirchlicher Glaubenslehren anderer-

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Die Rosenkreuzer seits entstand. Dagegen läßt sich eine unmittelbare Kontinuität zu den freimaurerähnlichen Rosenkreuzer-Logen des 18. Jahrhunderts nicht erkennen. Noch weniger besteht eine solche Verbindung zu den legendären Rosenkreuzern jener Schriften, die am Vorabend des 30jährigen Krieges erschienen und bis heute zum mythischen Fundus aller Rosenkreuzer-Vereinigungen gehören. Pure Phantasie ist schließlich die jahrtausendealte Verbindung mit ägyptischen Mysterien, die AMORC behauptet und mit den exotischen Bauten des "Rosicrucian Park" in San Jose zu untermauern versucht. Eine solche Kontinuität kann es schon deshalb nicht geben, weil die Original-Rosenkreuzer nie existiert haben. Sie waren ein reines Hirngespinst, ein Tagtraum. Und die Wurzeln dieser ins Nostalgische changierenden Kopfgeburt, welche die heutigen Rosenkreuzer noch mehr ins Nostalgische steigern, finden sich auch nicht am Nil in Ägypten, sondern am Neckar in Tübingen. (2) Die Rosenkreuzer sind nämlich eine papierene Legende. Die drei grundlegenden einschlägigen Schriften sind die „Fama fraternitatis“, die „Confessio“ und die „Chymische Hochzeit“, die in den Jahren 1614, 1615 und 1616, also kurz nacheinander, erschienen. Inzwischen gilt als erwiesen, daß alle drei Schriften aus dem Freundeskreis des Tübinger Theologen Johann Valentin Andreae stammten und daß Andreae zumindest die "Chymische Hochzeit" selbst verfaßt hat. In diesen Schriften wird die Figur eines armen deutschen Adeligen namens Christian Rosenkreutz beschworen, der 1378 geboren worden und 1484 im Alter von 106 Jahren gestorben sei. Dieser Christian Rosenkreutz habe nach ausgedehnten Reisen und Studien eine geheime, international verzweigte Bruderschaft gegründet, um eine allgemeine Reformation, eine „Generalreformation“ der Menschheit, in die Wege zu leiten. Ziel der Bruderschaft sei der Kampf für das reine, unverfälschte Evangelium - zugleich ein Kampf gegen Papst, Mohammed, Pfaffen, Alchemisten und scholastische Philosophie. Die Urheber dieser Legende waren also aufsässige evangelische Theologen, die mit dem Stand der Reformation unzufrieden waren und nach einer "Generalreformation" verlangten. Da diese nicht in der Realität zu bewerkstelligen war, verlegten sie ihren Wunschtraum in die Klandestinität: Sie erfanden die Figur des Christian Rosenkreutz, welcher, der Fama zufolge, schon über ein Jahrhundert im Geheimen am Wirken sei. Ziel dieser nostalgisch angehauchten Utopie war es letztlich, den Zwiespalt von Glauben und Wissen zu überwinden, der die späte Renaissance kennzeichnete. Die "Generalreformation" sollte die evangelische Theologie in Übereinstimmung mit dem Menschenbild des Humanismus bringen. Natur und Bibel galten dabei als gleichwertige Erkenntnisquellen. Der „Makrokosmos“ entsprach für sie dem „Mikrokosmos“. Diese Utopie trug auch sozialreformerische Züge, wie sich folgendem Vers des Christian Rosenkreutz entnehmen läßt: Ein frölich zeit die soll bald kommen, Darin einer wirt dem andern gleich, Keiner wirt sein arm oder reich, ...

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Die Rosenkreuzer Darumb so last ewer grosse klag, was ists umb etlich wenig tag. Die Schimären aus dem Tübinger Theologenkreis hatten eine ungeheure Resonanz. Bis 1620 erschienen etwa 200 Schriften, die an den Rosenkreuzer-Mythos anknüpften und ihn fortspannen, indem sie ihn unterstützten oder auch bezweifelten und bekämpften. Es half auch wenig, daß Andreae selbst sich schon bald von der Rosenkreuzerei distanzierte und die Fama als „Blendwerk“ bezeichnete. Sein gedankliches Geschöpf war ihm entglitten und hatte sich selbständig gemacht. Die Hoffnung auf eine Generalreformation, auf eine bessere Welt, in der sowohl die Kluft zwischen Glauben und Wissen als auch der Gegensatz zwischen arm und reich überwunden würde, entsprach zu sehr den Bedürfnissen der Zeit: Das neue Selbstbewußtsein war geistiger Not, Ängsten, Zweifeln und der Sehnsucht nach einer besseren Welt gewichen. Die Renaissance war am Ende, und zum Manierismus in der Kunst paßte sehr wohl eine literarische Groteske wie die Figur des Christian Rosenkreutz. Statt der "frölich Zeit", die mit der Generalreformation anheben würde, begann schon 1618 die apokalyptische Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Zu den Überlebenden der jahrzehntelangen Verwüstung gehörte die Hoffnung auf eine bessere Welt und damit auch der Mythos von den Rosenkreuzern.

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Das dritte Reich

Das dritte Reich Ein tausendjähriger Mythos zwischen Utopie und Nostalgie „Das dritte Reich“ ist bis heute die populärste Bezeichnung für das nationalsozialistische Deutschland geblieben. Weitgehend unbekannt sind jedoch die Wurzeln dieser Nostalgie, welche die Wiederkehr vergangener Reichsherrlichkeit versprach. Die tausend Jahre, die das dritte Reich der Nazis dauern sollte, reduzierten sich bekanntlich auf zwölf. Der Mythos selbst ist aber tatsächlich an die tausend Jahre alt. Der Begriff des "dritten Reichs" ist - von der Verwendung des Wortes für den Nazi-Staat mal abgesehen - weitgehend synonym mit dem „tausendjährigen Reich“, dem „ewigen Reich“, dem „ewigen Evangelium“ oder dem „dritten Testament“. Seine nostalgische Prägung hat er erst in der Neuzeit erfahren. Ursprünglich handelte es sich nämlich um eine religiöse Utopie, die aufs engste mit der Geschichte des Christentums und der Unterdrükkung chiliastischer Bewegungen durch die kirchliche Orthodoxie verbunden ist. Die Geschichte des Mythos beginnt an einem Pfingstmorgen, an dem der ZisterzienserAbt Joachim von Floris (1130 - 1202) mit der Betrachtung der Johannesapokalypse beschäftigt war. Blitzartig enthüllte sich ihm das Geheimnis der Heiligen Schrift als Aufeinanderfolge von drei Zeitaltern, nämlich das des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Seine Erleuchtung hat er mit diesen Worten zu beschreiben versucht: Auf drei Weltordnungen weisen uns die Geheimnisse der Heiligen Schrift: auf die erste, in der wir unter dem Gesetz waren, auf die zweite, in der wir unter der Gnade sind, auf die dritte, welche wir schon aus der Nähe erwarten, in der wir unter einer reicheren Gnade sein werden, weil Gott, wie Johannes sagt, uns Gnade für Gnade gab, nämlich den Glauben für die Liebe und beide gleicherweise. Der erste status also steht in der Wissenschaft, der zweite in der teilweise vollendeten Weisheit, der dritte in der Fülle der Erkenntnis. Der erste in der Knechtschaft der Sklaven, der zweite in der Knechtschaft der Söhne, der dritte in der Freiheit. Der erste in der Furcht, der zweite im Glauben, der dritte in der Liebe. Der erste ist der Status der Knechte, der zweite der Freien, der dritte der Freunde. Der erste der Knaben, der zweite der Männer, der dritte der Alten. Der erste steht im Licht der Gestirne, der zweite im Licht der Morgenröte, der dritte in der Helle des Tages. Der erste steht im Winter, der zweite im Frühlingsanfang, der dritte im Sommer. Der erste bringt Primeln, der zweite Rosen, der dritte Lilien. Der erste bringt Gras, der zweite Halme, der dritte Ähren. Der erste bringt Wasser, der zweite Wein, der dritte Öl. Der erste status bezieht sich auf den Vater... der zweite auf den Sohn... der dritte auf den Heiligen Geist. (1)

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Das dritte Reich Joachim von Floris schuf mit dieser Drei-Phasen-Theorie die „folgenreichste Sozialutopie des Mittelalters“ (Ernst Bloch). In seiner Sicht verwandelte sich die Trinitätslehre zu einer großartigen Geschichtsphilosophie, die in mancher Hinsicht bereits an die Hegelsche Dialektik des absoluten Geistes gemahnt. Er erneuerte zugleich den Chiliasmus des ursprünglichen Christentums, das ja an ein durchaus irdisches und unmittelbar bevorstehendes Reich Gottes glaubte. Auch Joachim glaubte, auf Grundlage der Heiligen Schrift das bevorstehende Ende der Welt voraussagen und den Beginn des dritten, des ewigen Reiches genau für das Jahr 1260 bestimmen zu können. Die Kirche hatte sich von diesem ursprünglichen Chiliasmus inzwischen verabschiedet, und dies aus gutem Grund: Er hatte nämlich die Christengemeinde und die neue römische Staatsreligion in eine schwere Krise gestürzt, als Rom im Jahre 410 durch die Westgoten unter Alarich eingenommen und drei Tage lang geplündert worden war. In den Augen vieler Zeitgenossen, Heiden wie Christen, bedeutete dies ein schmähliches Versagen des Christengottes und seiner Heiligen. Der afrikanische Bischof Augustinus meisterte die kritische Situation, indem er sein umfangreiches Werk vom „Gottesstaat“ schrieb, das bis heute für die katholische Theologie richtungsweisend geblieben ist. Augustinus verwarf darin die chiliastische Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Gottesreiches. Stattdessen ließ er das Reich Gottes bereits in die Gegenwart hineinreichen, und zwar in Gestalt der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen. Augustinus wurde damit zum Begründer der alleinseligmachenden Kirche, außerhalb der es kein Heil gibt. Er begründete zugleich den universalen Machtanspruch der Päpste, als Sachwalter des Gottesreiches noch über der weltlichen Gewalt des Kaisers zu stehen. Vor diesem Hintergrund konnten Joachims Erleuchtungen keine theologische Billigung finden. Indem sie den Untergang der Kirche im Reich des Geistes voraussagten, gefährdeten sie die göttliche Legitimation der Kirche. Mit Joachim selbst ging die Kirche noch einigermaßen glimpflich um. Aber schon kurz nach seinem Tod hat das Laterankonzil von 1215 seine Lehren verurteilt. Ein Franziskaner, der Joachims Schriften unter dem Titel „ewiges Evangelium“ zusammenstellte, wurde lebenslänglich eingekerkert. Zahlreiche andere Anhänger der joachimitischen Lehre wurden als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die joachimitische Utopie war indessen trotz aller Unterdrückung und Verfolgung nicht gänzlich totzukriegen. Sie überstand sogar das kritische Jahr 1260, in dem nach Joachims Berechnungen eigentlich das Zeitalter des Heiligen Geistes bzw. das dritte Reich hätte beginnen müssen. Sie inspirierte besonders den radikalen Flügel der Franziskaner, die "Spiritualen", die Joachims Lehren als "ewiges Evangelium" betrachteten und deshalb der Drangsalierung durch die kirchliche Orthodoxie ausgesetzt waren. Sie wirkte weiter in den Mystikern, in Hussiten, Widertäufern und in der sozialrevolutionären Utopie Thomas Müntzers. Sie mündete schließlich in die Reformation Luthers, der in durchaus joachimitischer Manier die Axt an den alleinseligmachenden Anspruch der Kirche legte, zugleich aber auch dem Chiliasmus einen neuen Riegel vorschob. Schon frühzeitig zweigte sich vom religiösen Chiliasmus des dritten Reiches eine mehr profane Utopie ab, welche die Gestalt des Erlösers auf den Kaiser und dessen Reich

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Das dritte Reich übertrug. Nach der biblischen Legende besteht zwischen beiden Reichen ein historischer Zusammenhang: Schließlich bedeutet das dritte, ewige Reich Gottes die Nachfolge und Überwindung aller vorangegangenen weltlichen Reiche. So ist im Johannes-Evangelium von der tausendjährigen Fesselung des Teufels die Rede, der dann kurzzeitig freigelassen wird, ehe das Reich Christi beginnt. Nachdem die frühen Christen täglich das Kommen des Erlösers erwartet hatten und immer wieder enttäuscht worden waren, stützte man sich gerne auf diese Bibelstelle und rechnete die erwähnten tausend Jahre ab Christi Geburt, so daß sich die Erwartung des Weltuntergangs für das Jahr 1000 ergab. Die damalige Christenheit hat diesem magischen Datum voller Bangen und Entsetzen entgegengeblickt. Auch hier konnte Augustinus posthum aus der Klemme helfen. Er hatte nämlich die Frage nach dem genauen Weltende als "unschicklich" angesehen und die "tausend Jahre" als eher unbestimmte Zeitangabe relativiert. Ebenso legte Augustinus, gemäß seiner Gottesstaats-Theorie, großen Wert darauf, daß die tausend Jahre der Fesselung des Teufels zugleich die "tausendjährige Herrschaft Christi" seien. Damit fiel auf den weltlichen Staat ein Abglanz des Gottesreichs. (2) Den unmittelbaren Anstoß für die weltliche Utopie vom tausendjährigen Reich oder dritten Reich dürften - unbeabsichtigt - die Joachimiten selbst gegeben haben. Gemäß der erwähnten Weissagung des Johannes, wonach zwischen der Fesselung des Teufels und dem endgültigen Triumph des Gottesreichs die vorübergehende Freisetzung des Bösen liegt, galt ihnen nämlich der staufische Kaiser Friedrich II. als jener Teufel bzw. „Antichrist“, dessen kurzzeitige Herrschaft dem Gottesreich vorausgehen sollte. Das war keineswegs eine häretische Sichtweise, sondern entsprach nur der Haltung der Amtskirche, die auf diese Weise im Streit zwischen Guelfen und Ghibellinen ihren aufgeklärten staufischen Widersacher buchstäblich zu verteufeln versuchte. Vor allem aber paßte Friedrich II. als "Antichrist" hervorragend ins eschatologische Konzept des Weltuntergangs, den der längst verstorbene Joachim im Lichte seiner aus der Bibel gewonnenen Erkenntnisse auf das Jahr 1260 festgesetzt hatte. Schon zehn Jahre vor dem erwarteten Weltuntergang passierte nun jedoch etwas, was die Joachimiten kaum minder verwirrte als das spätere Ausbleiben des dritten Reichs: Friedrich II. starb nämlich überraschend. Der "Antichrist" war damit aus der Welt, bevor die Welt unterging und das ewige Reich des Heiligen Geistes begann. Das paßte nicht mit dem chiliastischen Terminplan zusammen, und so flickte man den geborstenen Mythos, so gut es eben ging: Es entstand die Legende, daß Friedrich II. gar nicht tot sei, sondern in der Hölle unter dem Vulkan Ätna nahe seiner sizilianischen Residenz hause und eines Tages von dort wiederkehren werde - für die einen, um die Herrschaft des Antichrist zu vollenden, für die anderen, um - ganz im Gegenteil - das staufische Kaiserreich im tausendjährigen Glanz zu erneuern. Es würde zu weit führen, die vielfach verschlungenen Stränge dieser Friedrichs-Sage im propagandistischen Kampf zwischen Guelfen und Ghibellinen bzw. päpstlichen und kaiserlichen Interessen verfolgen zu wollen. Oft ist auch die Quellenlage zu dürftig, um mehr als Mutmaßungen anstellen zu können. Jedenfalls tauchte die Legende vom bergentrückten Kaiser auch nördlich der Alpen auf und gewann hier ausgesprochen stauferfreundliche Züge. Schließlich blieb sie sogar nur noch im weltlichen Mythos von der Erneuerung des

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Das dritte Reich Kaiserreichs erhalten. Allerdings trat nun an die Stelle des Ätnas auf Sizilien der Berg Kyffhäuser in Thüringen und an die Stelle Friedrichs II. dessen Vorgänger Friedrich I., auch Barbarossa genannt. Im Unterschied zum joachimitischen Chiliasmus, der noch über Jahrhunderte in der Kirche virulent blieb, dürfte von dieser Kaiser-Legende kaum geschichtsmächtige Kraft ausgegangen sein. Sie war eher ein Abgesang auf vergangene Herrlichkeit. Sie hielt die Erinnerung an das Reich der Staufer wach. Als nostalgische Beschwörung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation war sie so kraftlos wie dieses selbst. Der Wind der Geschichte blies der kaiserlichen Zentralgewalt ins Gesicht. Dies erklärt vielleicht auch, weshalb es von der Kaiser-Sage zahlreiche regional geprägte Varianten gibt, in denen sowohl der Name des bergentrückten Herrschers wie auch der Name des Berges, des Endzweckes des unterirdischen Ausharrens und sonstige Umstände verschieden sind. (3) Die Kernsage wurde erst wieder vom erwachenden deutschen Nationalgefühl entdeckt. So lieferte die Barbarossa-Legende den Stoff für eine Ballade, die Rückert im Jahr 1817, auf dem Höhepunkt der nationalen Hoffnungen nach den Befreiungskriegen, zu Papier brachte. Die ersten drei Strophen lauten: Der alte Barbarossa Der Kaiser Friederich, Im unterirdschen Schlosse Hält er verzaubert sich. Er ist niemals gestorben, Er lebt darin noch jetzt; Er hat im Schloß verborgen Zum Schlaf sich hingesetzt. Er hat hinabgenommen Des Reiches Herrlichkeit, Und wird einst wiederkommen Mit ihr, zu seiner Zeit. Die Barbarossa-Sage, wie sie im Zuge der nationalen Bewegung reaktiviert wird, ist natürlich kein realer, tatsächlich geglaubter Mythos mehr. Sie ist ein Symbol, eine Metapher für die Sehnsucht nach einem machtvollen, geeinten deutschen Reich. Sie ist ein nostalgischer Tagtraum. Angesichts der trostlosen Gegenwart labt man sich am Blick in die Vergangenheit, vergleichbar der Begeisterung für das "Altdeutsche", für Burgen und vergangene Ritterherrlichkeit, die ebenfalls um diese Zeit zu grassieren beginnt. Bis 1848/49 sind in diesem Traum vom deutschen Kaiserreich aber auch revolutionärliberale Tendenzen enthalten, wie das folgende Gedicht Hoffmanns von Fallersleben zeigt: Wenn der Kaiser doch erstände! Ach! er schläft zu lange Zeit:

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Das dritte Reich Unsre Knechtschaft hat kein Ende Und kein End hat unser Leid. Auf dem schönen deutschen Lande Ruht der Fluch der Sklaverei Mach uns von der eignen Schande, Von dem bösen Fluche frei! Kaiser Friedrich, auf! erwache! Mit dem heil‘gen Reichspanier Komm zu der gerechten Rache! Gott der Herr er ist mit dir. Ach! Es krächzen noch die Raben Um den Berg bei Tag und Nacht. Und das Reich, es bleibt begraben, Weil der Kaiser nicht erwacht. Der Mythos vom dritten Reich lebte nicht nur in der Kaisersage fort, sondern inspirierte auch ganz unmittelbar den Fortschrittsglauben der Aufklärung. Für Lessing stand fest, daß die joachimitische Vorstellung vom dreifachen Alter der Welt sicher „keine so leere Grille“ gewesen sei und daß die utopistischen Schwärmer des Mittelalters „einen Strahl dieses neuen, ewigen Evangeliums aufgefangen hatten und nur darin irrten, daß sie den Ausbruch desselben so nahe verkündeten“. Lessing teilte sicher nicht den religiösen Chiliasmus, aber im Sinne des "Prinzips Hoffnung", wie es Ernst Bloch später formulierte, schien ihm der vernunftmäßig geläuterte Glaube an ein höheres Prinzip der Geschichte und an eine höhere Bestimmung des Menschen unerläßlich: Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennnen. Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines "neuen, ewigen Evangeliums", die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird. (4) Heinrich Heine hat in seinen Gedichten auf beide Varianten des alten Mythos zurückgegriffen. In "Deutschland, ein Wintermärchen" behandelt er ausführlich, aber voll ironischer Distanz die Legende vom Kaiser Barbarossa. Zunächst persifliert er die vertraute Vision vom Schlaf im Kyffhäuser. Dann verwandelt sich der Kaiser plötzlich in eine Art Antiquar, der geschwätzig durch die unterirdischen Räume führt, alte Fahnen abstaubt und mit dem Hermelin von Schwertern den Rost abreibt. Als sich der Kaiser über die mangelnde Zahl seiner Rösser beklagt, gibt ihm Heine den anzüglichen Rat, es doch einfach mit Eseln zu versuchen...

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Das dritte Reich Ganz ohne Ironie, mit aufklärerischem Enthusiasmus, machte sich Heine dagegen den vernunftmäßig geläuterten Chiliasmus Lessings zueigen. Im Zyklus "Seraphine" seiner im Vormärz verfaßten "Neuen Gedichte" beschwört er geradezu hymnisch die Überwindung der alten Moral durch das pantheistische Credo vom "dritten Testament": Auf diesen Felsen bauen wir Die Kirche von dem dritten Dem dritten neuen Testament; Das Leid ist ausgelitten. Vernichtet ist das Zweierlei, Das uns so lang betöret; Die dumme Leiberquälerei Hat endlich aufgehöret. Hörst du den Gott im finstern Meer? Mit tausend Stimmen spricht er. Und siehst du über unserem Haupt Die tausend Gotteslichter? Der heil'geGott, der ist im Licht Wie in den Finsternissen; Und Gott ist Alles, was da ist; er ist in unsern Küssen. Die Zerschlagung der revolutionären Erhebung von 1848/49 machte solche vormärzlichen Träume von einem liberalen Deutschland mit einer neuen, freieren Moral zunichte. Anstelle des ersehnten großdeutsch-liberalen Kaiserreichs unter Einschluß Österreichs bekam die Nation ein kleindeutsch-obrigkeitsstaatliches Kaiserreich unter dem Stiefel des preußischen Militarismus. Die Kaiseridee wurde nun endgültig für Hurra-Patriotismus und imperialistische Expansionsgelüste vereinnahmt. Auf dem Kyffhäuser in Thüringen, unter dem nach der Legende Barbarossa auf die Erneuerung des Reiches wartet, wurde von 1890 bis 1896 ein „Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal“ errichtet. Auch sonst gab man sich alle Mühe, die Glorie der Legende, die ja mit dem längst ausgestorbenen Geschlecht der Staufer verbunden war, auf die regierenden Hohenzollern überzuleiten. Zum Beispiel machte sich der damals sehr bekannte Dichter und Schriftsteller Wilhelm Jensen an die Aufgabe, den Hohenzollern als den "wahren Kyffhäuserberg" zu besingen: Zwei Gipfel ragen im Schwabenland Sie künden empor mit deutender Hand Des deutschen Reiches Geschichte: Der öde Staufen im Abendglanz, Der Hohenzollern im Zinnenkranz Vergoldet vom Morgenlichte. Das ist der wahre Kyffhäuserberg, Dort hielt die geheime Wach der Zwerg,

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Das dritte Reich Dort krächzen die fränkischen Raben. Aufspringt sein Tor - im Purpurkleid Die versunkene deutsche Herrlichkeit Steigt auf, die nimmer begraben. Auch der Historiker Franz Kampers, der die bis dato gründlichste Untersuchung über "Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage" verfaßte, konnte sich nicht enthalten, am Schluß seines 1896 veröffentlichten Werkes in untertänigsten Jubel auszubrechen: „Ja, der Berg hat sich aufgetan; wiederum leuchtet vom Fels zum Meer das befreite Szepter eines deutschen Kaisers. Schon schickt man sich an, das Kyffhäuser-Denkmal zu enthüllen, das da den Kaisertraum des deutschen Volkes und seine Erfüllung im ehernen Bilde feiern soll. Bald wird das Kyffhäuser-Standbild des ersten deutschen Kaisers nach der Wiederaufrichtung des Reiches stolz in die Lüfte ragen. Der Kaiser ist erstanden...“ (5) Nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Kaisertums in der Revolution von 1918 bekam das chiliastische Motiv vom dritten Reich, das bis dahin in der Barbarossa-Sage überwintert hatte, eine neue, aktuell-politische Bedeutung und Stoßkraft. Es stand nun für die verbreitete Sehnsucht nach Tilgung der "Schmach von Versailles" und Wiedererrichtung eines Obrigkeitsstaates. Es beschwor die Fortsetzung des mittelalterlichen Kaiserreichs und der von Bismarck geschmiedeten Kaiserkrone. Sein Prophet wurde Arthur Moeller van den Bruck (1876 - 1925), der mit seinem 1923 erschienenen Buch "Das dritte Reich" jenes Schlagwort in Umlauf brachte, dessen sich bald darauf die Nationalsozialisten bemächtigten. Die Faszination, die von Moeller van den Brucks "drittem Reich" ausging, erklärt sich aber nur zum Teil aus der Idee einer Erneuerung und Fortsetzung des alten Reiches. Das Buch bot nicht nur einen Aufguß des Kyffhäuser-Kults. Es verband vielmehr die politische mit einer sozialen Vision: Es versprach ein drittes Reich des inneren Friedens, in dem Klassen- und Standesunterschiede überwunden sind. Ursprünglich wollte Moeller van den Bruck sein Buch "Die dritte Partei" betiteln und so sein eigentliches Anliegen zum Ausdruck bringen, nämlich einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu finden. Die Verschmelzung nationaler und sozialer Ideen, die Stiftung einer harmonischen Volksgemeinschaft, war das eigentliche Thema. Mit dieser politischen Romantik traf er den Nerv einer Gesellschaft, die durch die Revolution von 1918 wie auch durch die vorangegangene russische Revolution zutiefst verunsichert worden war und in der die kleinbürgerliche Mittelschicht durch Inflation und Massenarbeitslosigkeit vom Absturz ins soziale Nichts bedroht war. Das dritte Reich, wie es durch Moeller van den Bruck beschworen wurde, griff über die politische Reichsidee hinaus. Es verhieß eine Art sakrale Volksgemeinschaft und machte damit deutliche Anleihen beim ursprünglichen religiösen Chiliasmus. Es versprach nicht die Restauration der Hohenzollern-Monarchie, sondern eine spirituell-soziale Revolution, ein drittes Reich jenseits der profanen Niederungen von Kapitalismus und Kommunismus.

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Das dritte Reich Nach der Machtergreifung Hitlers war natürlich auch die Zunft der Historiker wieder aufgerufen, zur braunen Einfärbung des alten Mythos die passende Monographie zu liefern. Der Titel lautete jetzt "Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung". Und wie selbstverständlich wußte ein Julius Petersen dieselbe professorale Gelehrsamkeit, die einst bei Franz Kampers die Kaisersage ins Reich der Hohenzollern münden ließ, jetzt mit der Verklärung Hitlers als Erfüller des Traums vom dritten Reich zu verbinden: „Nun ist das Morgen zum Heute geworden; Weltuntergangsstimmung hat sich in Aufbruch verwandelt; das Endziel tritt ins Blickfeld der Gegenwart, und aller Wunderglaube wird zur tatkräftigen Gestaltung der Wirklichkeit angesetzt. Die mystische Dreizahl bedeutet nicht mehr Abschluß, sondern Glied einer historischen Reihe, die ihre Fortsetzung finden wird. Mit dem Eintritt des Unendlichen in die Endlichkeit ist der Uferlosigkeit ein Boden geschaffen, in den der Hoffnungsanker sich senkt.“ (6) Moeller van den Bruck hat die angebliche Verwirklichung des dritten Reichs im HitlerStaat nicht mehr erlebt. Er landete bald nach Erscheinen seines Buches in einer Nervenheilanstalt und setzte seinem Leben in tiefer Depression ein Ende. Das Schlagwort vom dritten Reich, das er in Umlauf brachte, diente bis in den zweiten Weltkrieg hinein dem NS-Staat als Selbstbezeichnung. Die schließliche Untersagung dieser Bezeichnung durch Hitler selbst dürfte rein taktischen Überlegungen entsprungen sein; ähnlich der überraschenden Kehrtwendung bei der "gotischen Schrift", deren Frakturlettern zunächst als typisch deutsch und geradezu als Ausweis rechter Gesinnung galten, ehe sie als angebliche "Schwabacher Judenlettern" verfemt wurden. Beide Revisionen aus der Endzeit des Regimes sind auch nicht ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen. Noch heute dient "das dritte Reich" als Synonym für den NS-Staat, und die Frakturschrift blieb für die alliierten Sieger derart mit dem Faschismus verbunden, daß sie ihren Gebrauch nach 1945 verboten.

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Das Prinzip Hoffnung

Das Prinzip Hoffnung Über den Zusammenhang von Nostalgie und Utopie Unbeantwortet blieb bisher die Frage, wie Nostalgie psychologisch zu erklären sein könnte. Es wurde lediglich angedeutet, daß Nostalgie die Funktion von Ersatz-Utopie hat und daß zwischen beiden geistigen Haltungen eine Art Wahlverwandtschaft besteht: Sie gleichen kommunizierenden Röhren des „Prinzips Hoffnung“, wobei die Säule der Nostalgie um so höher steigt, je mehr die Säule der Utopie unter Druck gerät. Die Nostalgie ist in diesem Sinne ein massenpsychologisches, ein ideologisches Phänomen. Sie ist gesellschaftlich bedingt. Sie ist keine individuelle, sondern eine kulturelle Erscheinung. Allerdings gibt es auch individuelle Formen der Nostalgie, die schon deshalb nicht aus dem Auge verloren werden sollten, weil sie mit der zugrundeliegenden kulturellen Nostalgie in mannigfacher Beziehung stehen. Dazu gehört das „Heimweh“, das erstmals im 16. Jahrhundert auftauchte und von dem Mediziner Hofer als die neue Krankheit „nostalgia“ beschrieben wurde. Mit dem Heimweh kündigt sich die Säkularisierung und gleichzeitig die Nostalgisierung von Utopien an, die bis dahin nur im religiös-chiliastischen Gewand auftraten. Es ging der Nostalgie im modernen Sinn voraus und schuf offenbar erst die psychische Disposition für wehmütig-rückwärtsgewandte ideologische Strömungen. In Termini der Psychologie ließe sich das beispielsweise so erklären, daß sich mit Beginn der Neuzeit die "Richtung" bzw. der "Gestaltcharakter" der Wahrnehmung geändert hat: Das bisherige religiöse Bezugssystem der Wahrnehmung löste sich auf. An seine Stelle trat ein neues, irdisch-weltlich fixiertes System der Wahrnehmung. Auch die Sehnsucht nach der ursprünglich rein himmlischen „heimôti“ wurde so allmählich überlagert und verdrängt von der neuen Sehnsucht nach der irdischen „Heimat“. In den Bereich der individuellen Nostalgie gehört auch die Verklärung der eigenen Kindheit, wie sie oft bei Erwachsenen anzutreffen ist. Freud hat diesen Vorgang damit zu erklären versucht, daß Angenehmes eher erinnert werde, wogegen Unangenehmes der Verdrängung anheimfalle. Die empirische Psychologie hat für diese These keinen Beweis gefunden. Offenbar ist es für das Gedächtnis gar nicht so wichtig, ob der erinnerte Gegenstand von angenehmer oder unangenehmer Art ist. Entscheidend ist vielmehr die gefühlsmäßige Relevanz des Erlebten, und zwar nicht nur zum damaligen Zeitpunkt, sondern auch und besonders im Rahmen des aktuellen Wahrnehmungssystems. Auch hier gibt die "Richtung" bzw. der "Gestaltcharakter" der Wahrnehmung den Auschlag. Wer zum Beispiel glaubt, in einer Zeit des Niedergangs zu leben, wird schon deshalb zur Verklärung der erinnerten Kindheitseindrücke tendieren. Umgekehrt ist es möglich, daß der Sturz aus einer sonnig-behüteten Kindheit in eine häßliche Realität eine nostalgische Sicht-

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Das Prinzip Hoffnung weise begünstigt. Ein Beispiel dafür bietet der Kunsthistoriker Walter Sedlmayr, in dessen These vom "Verlust der Mitte" offenbar eine sehr persönliche Nostalgie mitschwang. In den individuellen Bereich gehört ferner jene unbestimmte Sehnsucht, die bei Jugendlichen in der Pubertät auftritt und ihre Individuation, die Lösung von den Eltern begleitet. Allerdings wird diese Pubertätskrise kulturell überformt. Der „Weltschmerz“, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts üblicherweise zur Adolszenz gehörte, ist deshalb heute in diesem Ausmaß und in dieser Form nicht mehr anzutreffen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts imponiert eher eine "skeptische" oder gar "coole" junge Generation. Nostalgie vermag sogar den Nationalcharakter oder zumindest das Erscheinungsbild einer Nation zu prägen. Hierher gehört der sprichwörtliche „Stolz des Spaniers“, der sich historisch aus dem Niedergang des spanischen Weltreichs und des damit verbundenen feudal-aristokratischen Gesellschaftsmodells erklären läßt: Anders als in England oder in den Niederlanden waren in Spanien die bürgerlichen Kräfte viel zu schwach, um eine Alternative darzustellen. Nach dem erfolgreichen Befreiungskampf der Niederländer und der Vernichtung der spanischen Armada durch die englische Flotte flüchteten breiteste Bevölkerungskreise deshalb in eine Art nostalgischer Trotzhaltung. Das ritterliche Ideal des „Hidalgos“ wurde zu jenem massenhaften Wahn, den Cervantes in seinem "Don Quichote" karikiert hat. Lange Zeit zum englischen Nationalcharakter gerechnet wurde der „spleen“: Die Bezeichnung entstand im 18. Jahrhunderts für eine melancholische Haltung mit exzentrischen Neigungen, die vor allem begüterte Kreise zu befallen pflegte und von der Medizin mit der Milz (griechisch splen) in Verbindung gebracht wurde. In Wirklichkeit hatte der "spleen" natürlich keine organischen Ursachen, sondern wurzelte im selben kulturellen Humus, dem die „follies“ und das „gothic revival“ entsprossen. Eine ebenso eindrucksvolle Verbindung der Nostalgie mit dem Nationalcharakter bietet die Saudade, jene eigenartige Schwermut, die bis heute als hervorstechendster Zug der Portugiesen gilt. Es handelt sich dabei um ein „unbestimmtes Verlangen nach etwas, was vielleicht gewesen sein mag, aber nicht wiederkommen wird, oder was einmal sein könnte und sich doch kaum verwirklichen wird“. Die Wurzeln dieses unstillbaren Sehnens, das „nicht so sehr nach Erfüllung als nach Verewigung des Verlangens strebt“, liegen offenbar im glanzvollen Aufstieg und jähen Niedergang der portugiesischen Nation. Nicht zufällig entstand auch in Portugal, nachdem das Land 1580 unter spanische Herrschaft geraten war, eine Art Barbarossa-Legende: Der letzte König Sebastian sei nicht auf dem Schlachtfeld gefallen, hieß es, sondern habe sich nur verborgen, um eines Tages wiederzukommen und sein Land neuen herrlichen Zeiten entgegenzuführen. Die Kraft dieser chiliastischen Legende war immerhin so stark, daß allenthalben falsche Sebastiane auftauchten und Gefolgschaft fanden. (1) Wie das Heimweh, das in besonderem Maße den Eidgenossen zugeschrieben wurde und deshalb als „Schweizerkrankheit“ galt, gehören aber auch der nostalgische Stolz des Spaniers, der melancholisch-exzentrische "Spleen" des Engländers und die schwermütige "Saudade" des Portugiesen bereits der Neuzeit an. Aus dem Mittelalter sind keine derar-

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Das Prinzip Hoffnung tigen nostalgischen Reaktionen bekannt. Es konnte sie wohl auch nicht geben, da sich alle psychischen Reaktionen - sei es auf den Verlust der Heimat oder auf den Untergang eines Reiches - im Rahmen des religiösen Deutungsmusters bewegten. Als zum Beispiel Rom im Jahre 410 von den Westgoten eingenommen wurde, gab es zwei entgegengesetzte Interpretationen dieses unerhörten Vorganges: 1. Der Christengott und die in Rom konzentrierten Reliquien hatten schmählich versagt; sie hatten das Zentrum der Christenheit den Heiden preisgegeben; es war deshalb besser, zu den alten heidnischen Göttern zurückzukehren. 2. Die bisherige Sichtweise des bevorstehenden Gottesreiches war falsch; das Reich Gottes war nicht mit dem irdischen Reich identisch; es gehörte vielmehr einer jenseitigen Sphäre an, die lediglich über die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen ins irdische Reich hineinragte. - Die zweite Version vertrat bekanntlich Augustinus in seinem „Gottesstaat“, und seitdem war das christliche Interpretationsmuster als oberste "Gestalt" der Wahrnehmung gegen alle Wechselfälle der Geschichte gefeit. Es konnte nur noch an sich in Frage gestellt werden. Deshalb sind uns aus dem Mittelalter auch keine nostalgischen Reaktionen auf die Unterdrückung religiöser Utopien bekannt. Es konnte sie nicht geben, da religiöse Utopien wie Joachims „drittes Reich“ transzendentalen Charakter hatten. Sie verhießen nicht den Himmel auf Erden, sondern den Himmel schlechthin. Die Geschichte war Heilsgeschichte. Der Zugang zum Gottesreich eröffnete sich nicht durch individuelle Erfahrung, sondern durch Vermittlung der Kirche. Auch unorthodoxe Richtungen wie die Mystik, die Franziskaner oder die Joachimiten stellten dieses Prinzip nicht in Frage. Die psychologischen Reaktionen bewegten sich deshalb im Rahmen des religiösen Weltbilds. Wo die Hoffnung auf das ewige Reich und die Erlösung zunichte wurde, blieben als Alternative nur Angst, Panik und apokalyptische Untergangsstimmung. Die ungebrochene Wirksamkeit der religiösen Doktrin konnte freilich nur mit einer sich steigendern Verfolgung aller häretischen Bestrebungen gesichert werden. Von daher erklärt sich die zunehmende Verdüsterung des mittelalterlichen Weltbildes: Je schärfer die Kirche gegen die Häretiker vorging, desto auswegloser wurde die psychologische Situation. Die Massenhysterie des Hexenwahns läßt sich nur vor dem Hintergrund der Ketzerverfolgung begreifen. Am Ende stand jene apokalyptische Stimmung, in der Luther den gordischen Knoten der alleinseligmachenden Kirche, den Augustinus geflochten hatte, kurzerhand durchhieb: Die göttliche Gnade wurde nun unabhängig von Ablässen und anderen Vermittlungen durch die Kirche. Sie wurde zur Sache des persönlichen Glaubens und Gewissens. Das ewige Reich Gottes wurde von der Institution der Kirche gelöst und in die Brust des einzelnen gelegt. Mit dieser Verinnerlichung des religiösen Glaubens war zugleich eine neue Sicht des Weltlichen verbunden: An die Stelle des Gegensatzes zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen Kaiser und Papst, trat der unlösbare Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, wie ihn Rousseau beklagt hat - ein fruchtbares Feld für Utopien, die diesen Gegensatz aufzuheben versprachen, von Morus und Campanella bis zum Kommunistischen Manifest. Diese Utopien waren dem religiösen Chiliasmus zum Verwechseln ähnlich. Sie waren aber nicht im göttlichen Heilsplan eines jenseitigen Reiches, son-

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Das Prinzip Hoffnung dern durchaus im irdischen Geschehen angesiedelt. Sie waren kein Bruch mit der Gegenwart, sondern deren Verlängerung in die Zukunft. Es lag nahe, diese Verlängerung der Gegenwart in eine utopische Zukunft auch rückwärts, in die Vergangenheit, vorzunehmen: Zur Utopie gesellte sich die Nostalgie als Ersatz-Utopie. Als Traumbilder, als rein psychische Realität, waren beide gleichermaßen wirklich und unwirklich. Sie glichen magischen Chiffren, die sich nur durch das positive oder negative Vorzeichen voneinander unterscheiden. Die utopische Variante war auf Veränderung der bestehenden Gesellschaft gerichtet. Sie hatte ein aktives Vorzeichen. Die nostalgische Variante verlegte dagegen die ersehnte Zukunft in die Vergangenheit und stand so unter passivem Vorzeichen - zumindest so lange, bis die zugrundeliegende, verdrängte Utopie wieder zum Vorschein kam. Die aktive, auf die Veränderung der Gegenwart gerichtete Utopie und die eher passiv-resignative Nostalgie entsprachen dem „handelnden Geist“ und dem „leidenden Geist“, wie sie Spinoza in seiner "Ethik" unterschieden hat.

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Versuch eines Fazits

Versuch eines Fazits Der Glaube, auf das Prinzip Hoffnung verzichten zu können, ist vielleicht nur die bornierteste aller Hoffnungen In der Schweizerkrankheit des Heimwehs manifestierte sich bereits dieser neue Mensch, wie er im vorigen Kapitel skizziert wurde und der nicht mehr nach einem göttlichen Heilsplan, sondern in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit lebte. Wichtiger als die himmlische „heimôti“, für die einst die Kreuzfahrer alles im Stich ließen, wurde die irdische Heimat, der sich die Schweizer Söldner wehmütig erinnerten. Und zumindest in den reformierten Kantonen durften sie damit auf Verständnis hoffen: Die Wissenschaft, die inzwischen immer mehr die Theologie verdrängte, exkulpierte ihr Leiden als die neue Krankheit „nostalgia“. Zunehmend deutlichere Konturen erlangte die moderne Nostalgie in der Sehnsucht nach Arkadien,welche die Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert begleitet. Arkadien war das, was unter dem Einfluß der Aufklärung vom irdischen Paradies übrig blieb: Ein rein psychischer Topos, der vom Gemüt in vollen Zügen genossen werden konnte, obwohl ihm der Verstand die Realität absprach. Dieser psychische Topos lag örtlich und zeitlich im Nirgendwo. Er war Selbstzweck, weckte keine Gedanken an gesellschaftliche Veränderung, erhob nicht mal den Anspruch auf gewesene Existenz. Was er trotzdem an utopischem Sehnen konservierte, setzte erst die französische Revolution frei. Als psychischer Topos zehrte Arkadien vom alten Mythos des Paradieses, des Goldenen Zeitalters, den schon Vergil in seinen Hirtengedichten beschwor und den Milton mit seiner Elegie vom Paradise lost erneuerte. Je mehr das ursprüngliche religiöse Vorbild verblaßte, desto plastischer mußten die Hilfsmittel werden, um diesen Traum aufrechtzuerhalten. Zur Dichtung, also zur bloßen Assoziationskraft des Wortes, gesellte sich deshalb die Malerei, die den arkadischen Gefilden zu zweidimensionaler Gestalt verhalf. Die IdealLandschaften auf der Leinwand lieferten ihrerseits die Vorlage für die Ideal-Landschaften im dreidimensionalen Arkadien des englischen Gartens. Noch vollkommener, noch dinglicher, war die Illusion Arkadiens nicht herstellbar. Die palladianische Villa des englischen Gartens, an die der Rasen des irregulären Parks unmittelbar heranreichte, verwies mit ihrer Symmetrie auf einen Menschen, der sich körperlich wie geistig im Gleichgewicht befand. Die Gesamtanlage, der Kontrast zwischen symmetrischer Architektur und Irregularität des "natürlichen" Parks, symbolisierte die harmonische Einbettung des Menschen in die Natur und des Individuums in die Gesellschaft. Sie war die Apotheose des bürgerlich-liberalen Gesellschaftsideals mit gärtnerischen Mitteln. Sie war zugleich eine großartige Selbsttäuschung über die tatsächlichen Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Diese Widersprüche deuteten sich be-

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Versuch eines Fazits reits im Scheitern der „ornamented farm“ an, mit der die ganze Landschaft in ein einziges Arkadien verwandelt werden sollte. Die Idee, den Gegensatz zwischen Nützlichem und Schönem, zwischen Arbeit und Muße, den ganzen Fluch der Arbeitsteilung, überwinden zu können, hatte etwas naiv-utopisches an sich. Die Utopie, wie sie der frühe und auch noch der klassische englische Garten zum Ausdruck brachte, verfiel im selben Maße, in dem das Bürgertum zur tatsächlich herrschenden Klasse avancierte und deshalb an Utopien, die stets über das Bestehende hinausweisen, nicht mehr interessiert sein konnte. Nicht mehr die Verwandlung der ganzen Landschaft in ein einziges Arkadien stand nun zur Debatte, sondern detaillierte Anleitungen, wie sich Fabriken und andere störende Elemente dem Blick entziehen lassen, um beim Gang durch den Park die Illusion nicht zu gefährden. Der englische Garten des Spätstils tendierte immer mehr zum Nostalgischen, zu dem von Goethe verspotteten Kult der Empfindsamkeit: Die psychischen Stimuli verwiesen nicht mehr auf die Utopie einer harmonischen Gesellschaft, sondern auf die Flucht vor der Realität ins Pittoreske, ins Exotische, in die isolierte Sensation. Das psychische Erlebnis wurde zum Eskapismus. In der Überzeugung des Gartentheoretikers Gilpin, eine palladianische Villa werde erst schön, wenn man sie mit dem Hammer bearbeite und in eine Ruine verwandele, manifestierte sich die Selbstzerstörung des früheren Ideals. Im gothic revival triumphierte die neue Lust am Irregulären, Irrationalen. Der Eskapismus genügte sich selbst. Es spielte keine Rolle, daß Walpoles Strawberry Hill sich nur lose an mittelalterliche Vorbilder anlehnte. Nicht das reale Mittelalter war gefragt, sondern eine Wunschzeit. Die Leichtgläubigkeit der Zeitgenossen, die einem Thomas Chatterton und James Macpherson ihre nostalgischen Fälschungen so begierig abnahmen, ja geradezu nahelegten, erklärt sich von daher. Trotzdem blieben diese Fälschungen ambivalent: In die mittelalterlichen Phantasien, die sich Thomas Chatterton ausdachte, ging die Trostlosigkeit seiner eigenen Situation und im Protest dagegen ein Stück Utopie mit ein. Macphersons Ossian wurde auf dem Kontinent offensichtlich anders rezipiert als in Großbritannien: In seinem Ursprungsland war der Ossian ein verkappter Konservativer, der in keltischer Kostümierung die längst zurückliegenden Kämpfe der englischen Revolution, die heroische Zeit des Bürgertums besang. Auf dem Kontinent wurde der nostalgische Singsang weniger elegisch aufgefaßt. Man hörte hier ein neues heroisches Zeitalter heraus. Der keltische Barde kündete hier nicht von vergangener, sondern von noch bevorstehender bürgerlicher Revolution. Eindeutig nostalgischen Charakter hatte hingegen die Burgen-Romantik, in der das "gothic revival" von England auf Deutschland übergriff. Der Wiederaufbau der Rheinburgen und die Errichtung von Märchenschlössern versinnbildlichte die Restauration von Thron und Altar nach dem Wiener Kongreß und den enttäuschten Hoffnungen der Befreiungskriege. Nicht ganz so eindeutig war allerdings die begleitende Romantik des Altdeutschen, die sich zu einem guten Teil aus den ossianischen Mythen nährte. Caspar David Friedrich malte damals sein Bild von den Kreidefelsen auf Rügen: Während sich der bürgerliche Spießer mit Zylinderhut verzagt am Rande des Abgrunds festklammert, steht ein Mann mit altdeutschem Barett furchtlos auf den Klippen, den Blick sinnend in die utopische Weite des Meeres gerichtet...

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Versuch eines Fazits In der Nostalgie werden utopische Hoffnungen aber nicht nur zurückgedrängt. Zugleich erneuern sich in ihr diese utopischen Hoffnungen. So kann die Entdeckung und Verehrung der Antike, die an der Wiege der Neuzeit steht, als eine großartige Nostalgie begriffen werden: Sie war die erneuerte Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter, die sich zeitweilig in der christlichen Erlösungslehre verpuppt hatte. Sie löste dieses Goldene Zeitalter vom Reich Gottes, das die Kirche inzwischen ins zeitlos-überirdische entrückt hatte, und verpflanzte es wieder auf die Erde zurück. - Zunächst nur in die antike Vergangenheit oder in den zeitlosen Topos Arkadiens, aber die Verlegung des Goldenen Zeitalters in die Zukunft war darin schon latent inbegriffen und der Wille zur Verwirklichung nur suspendiert. Ohne den Rückgriff auf die Antike wäre auch die Reformation nicht denkbar gewesen. Sie war die Gegenbewegung zum Auseinanderfallen dieses neuen, an der Antike orientierten Weltgefühls mit der tradierten Religion, das sich schon seit dem 13. Jahrhundert in den gegenläufigen Bewegungen humanistischer Gelehrsamkeit und mystischer Frömmigkeit abzuzeichnen begann. Sie war der Versuch, die Einheit von Glauben und Wissen wiederherzustellen. Ihr Vorhaben, das Weltliche wieder zu vergeistigen, lief aber ebenso auf eine Verweltlichung des Geistigen hinaus. Die Reformation stand damit am Anfang aller weltlichen Utopien, die sie freilich wider Willen intendierte: So entstand die nostalgische Utopie von den Rosenkreuzern erst durch die Ausgrenzung chiliastischer Strömungen aus der protestantischen Theologie. Die Phantasmagorie der Rosenkreuzer war, wie später der Pietismus, ein Protest gegen die Wandlung zur obrigkeitlichen Staatskirche. Sie war ein Protest gegen den Verrat am nunmehr verinnerlichten Reich Gottes und der Einheit von Glauben und Wissen. In der Figur des Christian Rosenkreutz wurden die uneingelösten Hoffnungen der Reformation in die Vergangenheit proji*ziiert und zugleich - im angeblich fortdauernden Wirken des Geheimbundes der Rosenkreuzer - bis in die utopische Zukunft einer Generalreformation verlängert. Verweltlicht wurde nunmehr auch die religöse Utopie vom dritten Reich. Im Mythos vom bergentrückten Kaiser Barbarossa bekam sie eine eher nostalgische Note, im aufklärerischen Enthusiasmus des neuen Evangeliums bei Lessing oder Heine behielt sie ihre utopische Tendenz. Beide Traditionslinien setzen sich bis ins 20. Jahrhundert fort und vermischen sich teilweise: So ist in den vormärzlichen Hoffnungen auf einen Kaiser, der fürstlicher Kleinstaaterei und Sklaverei ein Ende macht, durchaus aufklärerisches Gedankengut enthalten (obwohl für die Verwirklichung dieser Idee - wie Heine bei seiner imaginären Inspektion des Waffenarsenals unter dem Kyffhäuser bemerkt - die Zahl der Schlachtrösser nicht ausreicht und sie deshalb nur mit Eseln zu realisieren ist). Noch im "dritten Reich" Moeller van den Brucks ist die Reichsromantik mit einem Hauch des "neuen Evangeliums" durchsetzt - kein Wunder, denn schließlich soll es mit der kommunistischen Utopie konkurrieren, die dieses Evangelium in seiner bis dahin überzeugendsten und geschichtsmächtigsten Gestalt vertritt. Es wäre kurzsichtig, die weltliche Utopie bloß für einen säkularisierten Abklatsch, ein Surrogat des religiösen Glaubens zu halten und von "Religionsersatz" zu sprechen. Der Schweizer Theologie Walter Nigg hebt in seinem bemerkenswerten Buch über "Das Ewige Reich" zu Recht hervor, daß das Prinzip Hoffnung nicht an die christliche Religion gebunden sei,

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Versuch eines Fazits sondern in wechselnden historischen Erscheinungsformen auftrete. Der weltliche Chiliasmus sei kein bloßes Surrogat des religiösen Chiliasmus, sondern dessen legitimer Nachfolger. Entsprechend sieht Nigg in zeitgenössischen religiösen Chiliasten wie den "Zeugen Jehovas" nur sterile, geistig tote Reste, die im „Schandwinkel der Sekten“ dahinkümmern, bereits „veramerikanisiert“ sind und „oft ans Psychopathische grenzen“. Den wahren Erben des joachimitischen Chiliasmus entdeckt er dagegen in der kommunistischen Utopie, „die tatsächlich als die gewaltigste Form des Chiliasmus im letzten Jahrhundert bezeichnet werden“ müsse. Obwohl die kommunistische Utopie nicht ganz das Ende des 20. Jahrhunderts erreicht hat bzw. allenfalls noch, ähnlich den Zeugen Jehovas, irgendwo im "Schandwinkel der Sekten" dahinkümmert, erweist sich die Prognose des protestantischen Theologen als sehr hellsichtig: Auch mit der kommunistischen Utopie - so gibt er in seinem 1944 erschienenen Buch zu bedenken - habe das Prinzip Hoffnung keinen Abschluß gefunden: „Der chiliastische Zug aber fährt weiter. Die Erfassung des Mythos wird sich weiter wandeln. Auch der kommunistische Marxismus wird nicht seine letzte Ausprägung sein, sondern wieder von anderen abgelöst werden, die dem Wesen einer späteren Zeit mehr entsprechen werden.“ (1) Ein halbes Jahrhundert später, nach dem endgültigen Zusammenbruch der kommunistischen Regimes, wirkt diese Prophezeiung recht aktuell. Es geht dabei nicht allein um den Bankrott des sogenannten Marxismus-Leninismus und die geistige Obdachlosigkeit seiner ehemals gläubigen Anhänger. Viel gravierender ist die Krise des westlichen Bewußtseins - von der Linken bis zu den Konservativen - , das auf vertrackt-dialektische Weise mit der Staatsreligion im Osten zusammenhing. Erst jetzt wird den Westeuropäern jene geistige Leere und Orientierungslosigkeit bewußt, die sie früher zwar gelegentlich unter dem Stichwort amerikanische Zustände problematisierten, die aber in Wirklichkeit längst ihr eigenes Problem war. Endzeit-Stimmung also, und es sieht so aus, als ob das zweite Fin de siècle noch allerlei ausbrüten werde. Die Chancen für neue Heilsbringer sind längerfristig glänzend. Die Frage dabei ist nicht so sehr, ob und wann neue Chiliasten, Nostalgiker und Utopisten auftreten werden. Sie werden gewiß kommen, da das Prinzip Hoffnung zur condition humaine gehört. Es geht eher darum, in welcher Gestalt sich der Geist der Utopie erneuern wird, den die "marxistisch-leninistische" Dogmatik schon lange getötet hatte, bevor sie selbst zusammenbrach. Momentan sieht es eher noch aus aus, als sei das Prinzip Hoffnung außer Kraft gesetzt. Utopien aller Art werden belächelt oder sind geradezu verdächtig. Die Postmoderne inzwischen selbst überholt - hat das Ende der „grand récits“ und eine kunterbunte Vielfalt der unterschiedlichsten Ansichten verkündet. Ausgeklammert hat sie dabei aber alle Utopien, die ihrer Natur nach aufs Ganze gehen und deshalb zum postmodernen Warenhaus des Geistes wie der Fuchs zum Hühnerstall passen. Auch wer bloß an die Unaufhebbarkeit des Prinzips Hoffnung glaubte, wie seinerzeit Ernst Bloch, mußte damit rechnen, von den Ideologen der Ideologielosigkeit zum geistigen Wegbereiter des "Totalitarismus" erklärt zu werden.

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Versuch eines Fazits Ein Blick auf die gesellschaftliche Realität zeigt indessen, daß sich das Prinzip Hoffnung bereits wieder regeneriert: Seinen Nährboden bildet gerade eine weitverbreitete Hoffnungslosigkeit, die sich selbst für Realitätssinn, Illusionslosigkeit oder gar Aufgeklärtheit hält. In das geistige Vakuum strömen "new age", esoterischer Mumpitz, Spleens und Sekten aller Art und eine Flut psychologischer Ratgeberliteratur. Viele der Hoffnungslosen greifen auch zwanghaft nach Drogen, obwohl ihnen deren Risiko genau bekannt ist. Es grassieren diffuse Ängste, Paniksyndrome, depressive Verstimmungen und psychosomatische Erkrankungen. Inmitten einer Kultur, die eine Fülle materiellen Reichtums wie nie zuvor bietet, macht sich eine trostlose, verzweifelte Grundstimmung breit, die an die Endzeit des römischen Imperiums oder auch das Mittelalters erinnert. Das verkündete Ende aller Utopien vermag vor diesem Hintergrund nicht zu überzeugen. Der Glaube, auf das Prinzip Hoffnung verzichten zu können, scheint eher Symptom als Lösung der Krise zu sein. Er ist vielleicht nur die bornierteste aller Hoffnungen.

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Anmerkungen Nostalgie 1 vgl. Volker Fischer, Nostalgie, Luzern und Frankfurt 1980 2 Magazin Kunst, Nr. 50/1973, S. 27 3 Magazin Kunst, Nr. 51/1973, S. 70 4 E. G. Carnap, Das Schäferwesen (Diss.), Würzburg 1939, S. 10 5 G. Brandes, Die romantische Schule, Berlin 1909, S. 3/4 6 Duden-Etymologie, Dudenverlag, Mannheim 1989; dieselbe Auskunft gibt der Aufsatz von Margot Dietrich über Nostalgie -vom Fachwort zum Modewort in Der Sprachdienst, Wiesbaden 1974, Heft 1, S. 2-4 7 The Oxford English Dictionary, Oxford 1989 8 Trésor de la langue française, Paris 1986 Heimweh 1 Willy Hellpach, Klinische Psychologie 2 W. Schmidbauer in Lexikon der Psychologie, Verlag Herder, Freiburg 1971 3 PsycINFO Database, produced by the American Psychological Association, Jan. 74 bis März 1990 4 Ina-Maria Greverus, Heimweh und Tradition, in Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Basel 1965, Bd. 61, S. 1 5 Karl-Heinz Gerstmann, Johannes Hofers Dissertation "De Nostalgia" von 1688, in Archiv für Begriffsgeschichte, Bonn 1975, Bd. XIX, Heft 1 6 Karl Jaspers, Heimweh und Verbrechen (Diss.), Leipzig 1909 7 Encyclopédie où dictionnaire raisonné, Bd. 8, Stuttgart 1967 (Faksimile-Nachdruck) 8 Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, im Verlag Johann Heinrich Zedlers, Halle und Leipzig 1735, Bd. 12, Spalte 1190-1192 9 Karl Marbe, Über das Heimweh, in Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 50, Leipzig 1925, S. 513- 524 10 Charles Zwingmann, Das nostalgische Phänomen, in Zur Psychologie der Lebenskrisen, Frankfurt a. M. 1962 Die "Schweizerkrankheit" 1 Rousseau, Julie oder Die Neue Heloise, Propyläen-Verlag, Berlin o. J. 2 Rousseau, Staat und Gesellschaft, München 1959, S. 115 3 Hans Dubler, Der Kampf um den Solddienst der Schweizer im 18. Jahrhundert (Diss.), Bern 1939 4 E. Bohnenblust, Geschichte der Schweiz, Erlenbach/Zürich 1974, S. 226-229 5 H. Eggers, Deutsche Sprachgeschichte, Reinbek 1965, S. 86 Arkadien 1 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959, Bd. 2, S. 580 2 Bruno Snell, Arkadien - Entdeckung einer Landschaft, in Antike und Abendland, Hamburg 1945 3 E. G. Carnap, Das Schäferwesen in der dt. Literatur des 17. Jh. (Diss.), Würzburg 1939 4 Herder, Werke, Darmstadt 1984, Bd. 1, S. 307 - 317 5 Ebenda, S. 220

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Anmerkungen "Et in arcadia ego" 1 Das Bild wurde früher irrtümlich Schidone zugeschrieben 2 Diderot, Ästhetische Schriften, Berlin und Weimar 1967, Bd. 2, S. 127 3 Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975 Ruinen-Symbolik 1 Diderot, Ästhetische Schriften, Berlin und Weimar 1967, Bd. 2, S. 150 2 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959, Bd. 1, S. 446 3 siehe 1, Bd. 1, S. 668/669 4 H. Bauer, Rocaille, Neue Münchener Beiträge zur Kunstgeschichte, Berlin 1962, S. 34 5 siehe 1, Bd. 2, S. 150 Symbol und Sentiment 1 vgl. Wilfried Hansmann, Gartenkunst der Renaissance und des Barock, Köln 1983, S. 286-267 2 Ebenda, S. 286-289 "Paradise lost" 1 G. W. F. Hegel, Ästhetik, Frankfurt a. M., o. J., Bd. 2, S. 467 2 zit. nach Dieter Hildebrandt, Voltaire - Candide, Berlin 1963, S. 136 ff 3 Voltaire, Candide, Hamburg 1957, S. 8 4 Diderot, Ästhetische Schriften, Berlin und Weimar 1967, Bd. 1, S. 114 Der Garten als moralische Anstalt 1 vgl. Adrian von Buttlar, Der Landschaftsgarten, München 1980; Nikolaus Pevsner, Architektur und Design, München 1971; Marie Luise Gothein, Geschichte der Gartenkunst, Jena 1914 2 C. A. Wimmer, Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt 1989, S. 88 3 Ebenda, S. 153 4 Ebenda, S. 142 ff 5 Ebenda, S. 170, 173 ff Das dreidimensionale Arkadien 1 C. A. Wimmer, Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt 1989, S. 182, 189 2 Ebenda, S. 230 Empfindsamkeit 1 Rousseau, Julie oder Die neue Heloise, Berlin o.J., Bd. 2, S. 116-143 2 z. B. enthält die Beschreibung von Mylord Cobhams Park in Staw bei Rousseau "chinesische" und andere pittoreske Elemente, die eher für den Spätstil typisch sind. 3 C. C. L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 17791780 / 5 Bände in 2 Bänden), Hildesheim/New York 1973, S. 344-347 4 Ludwig v. Sckell, Beiträge zur bildenden Gartenkunst (Nachdruck der Ausgabe München 1825), Worms 1982, S. 39 5 vgl. Marie Luise Gothein, Geschichte der Gartenkunst, Jena 1914

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Anmerkungen "Zwang des Ungezwungenen" 1 Dieter Hennebo / Alfred Hoffmann, Geschichte der deutschen Gartenkunst, Hamburg 1963, Bd. 3, S. 66-70 2 G. W. F. Hegel, Ästhetik, Frankfurt a. M. o. J., Bd. 2, S. 85 ff Gothic revival 1 The Royal Pavilion at Brighton, Brighton 1982 2 ausführlicher dazu Norbert Miller, Straberry Hill, München 1986 Die Tagträume des Thomas Chatterton 1 vgl. Helene Richter, Thomas Chatterton, in Wiener Beiträge zur englischen Philologie, Wien und Leipzig 1900. Ein Barde namens Ossian 1 vgl. Paul van Tieghem, Ossian et lëossianisme dans la littérature européenne au XVIIIe siècle, Groningen / Den Haag 1920 2 vgl. James Macphersonës Ossian, Faksimile-Neudruck der Erstausgabe von 1762/63 mit Begleitband: Die Varianten, herausgegeben von Otto L. Jiriczek in 3 Bänden, Heidelberg 1940 3 zit. nach dem Stichwort "Ossian" in Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste von J. S. Ersch und J. G. Gruber, Leizpig 1828 "Fingal" und Temora" 1 Die Gegenüberstellung beider Texte erfolgt nach Talvy, Die Unächtheit der Lieder Ossianës und des Macphersonëschen Ossians insbesondere, Leipzig 1840, S. 88-90. Für Voltaire eine Frage des Geschmacks 1 Samuel Johnson, Reisen nach den westlichen Inseln bei Schottland, Frankfurt a. M. 1982, S. 196 Burgen-Romantik 1 Ursula Rathke, Preußische Burgenromantik am Rhein - Studien zum Wiederaufbau von Rheinstein, Stolzenfels und Sooneck (1823-1860), München 1979 2 Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit, Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 62, Berlin 1987 3 siehe 1, S. 54 4 siehe 3, S. 221 5 siehe 2, S. 113 6 Rolf Bothe, Burg Hohenzollern - von der mittelalterlichen Burg zum nationaldynastischen Denkmal im 19. Jahrhundert, Berlin 1979 7 Siegrid Russ, Neuschwanstein - Der Traum eines Königs, München 1983 "Altdeutsch" statt neugotisch 1 Rolf Bothe, Burg der Hohenzollern - von der mittelalterlichen Burg zum nationaldynastischen Denkemal im 19. Jahrhundert, Berlin 1979 (Bothes Darstellung ist in diesem Punkt allerdings nicht ganz korrekt, da er die Hohenzollern-Hymne Gustav

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Anmerkungen Schwab als dem Verfasser des Werkes über "Die Schwäbische Alb" zuschreibt, das Paulus 1878 neu herausgegeben und durch Zusätze ergänzt hat. Schwabs Werk erschien jedoch bereits 1823, und er selbst starb 1850, so daß er die neue Burg Hohenzollern unmöglich gepriesen haben kann). 2 Siegrid Russ, Neuschwanstein - Der Traum eines Königs, München 1983, S. 16 u. 59 3 Hans Haug, Die Hohkönigsburg, Caisse nationale des monuments historiques 1975 (Burg-Führer) 4 Bodo Ebhardt, Deutsche Burgen als Zeugen deutscher Geschichte, Berlin 1925, S. 276 Elegie der Kindheit 1 Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte - Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948 2 Arnold Hauser, Mannerism - The Crisis of the Renaissance and the Origin of Modern Art, New York 1965, Bd. 1, S. 95 3 Hans Sedlmayr, Das goldene Zeitalter - Eine Kindheit, München 1986 Die Rosenkreuzer 1 vgl. Handbuch Religiöse Gemeinschaften, für den VELKD-Arbeitskreis Religiöse Gemeinschaften im Auftrage des Lutherischen Kirchenamtes herausgegeben von Horst Keller und Manfred Kießig, Gütersloh 1989, S. 421-442 2 Siegfried Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650, Berlin 1988, S. 300-345 Das dritte Reich 1 zit. nach Walter Nigg, Das Ewige Reich, Erlenbach/Zürich 1944, S. 163/164 2 Augustinus, Die Gottesbürgerschaft, Frankfurt 1961, S. 248-254 3 vgl. Stichwort "Bergentrückt" in Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin u. Leipzig 1927, Bd. 1 4 siehe 1, S. 302/303 5 Franz Kampers, Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage, München 1896, S. 171 6 Julius Petersen, Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich, Stuttgart 1934, S. 1 Das Prinzip Hoffnung 1 Fritz R. Allemann, 8mal Portugal, München/Zürich 1983, S. 156-159, 316-319 Versuch eines Fazits 1 Walter Nigg, Das Ewige Reich, Erlenbach/Zürich 1944, S. 343/344, 365

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